Das Einfluß-Paradox der Gegenwart (Digitale Dezember-Notizen)

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Dieser Text ist Teil der Dezember-Folge meines monatlichen Newsletters „Digitale Notizen“, den man hier kostenlos abonnieren kann.
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Es ist menscheitsgeschichtlich noch gar nicht so lange her, dass Menschen auf die Frage „Wo wird die Weltmeisterschaft ausgetragen?“ oder „Welche energiepolitische Entscheidung wird in meinem Land getroffen?“ geantwortet hätten: „Keine Ahnung, das kann ich doch nicht entscheiden.“ Übersetzt in ein Bild, das später noch eine Rolle spielen wird, könnte man es auch so formulieren: „Keine Ahnung, das liegt doch außerhalb meines Einfluss-Kreises.“

Die Demokratisierung der Publikationsmittel hat aus dem Versprechen „das Private ist politisch“ eine Aufgabe gemacht – und Fragen wie jene nach dem Austragungsort einer Fußball-WM oder der Energieversorgung personalisiert. Das private Verhalten Einzelner ist damit in den politischen Bereich gerückt – was zur Folge hat, dass „Keine Ahnung“ keine Option mehr ist. Denn Personalisierung der politischen Debatte heißt nicht nur Du kannst dich dazu verhalten, es heißt auch Du musst dich dazu verhalten. Wir können nicht nur an politischen Debatten teilnehmen, wir empfinden es auch als Verpflichtung. „Wenn wir nur alle…, dann wird schon …“ so das Muster der partizipativen Perspektive auf Politik in Zeiten der memetischen Meinungsbildung.

Anfang des Jahres hatte ich über die so genannte Glut-Theorie geschrieben, die versucht zu beschreiben, was passiert, wenn Meinungen zu Memes werden – wenn wir Identität über unveränderliche Ansichten verhandeln. Wenn Meinung zu einem unveränderlichen Kennzeichen wird, sind diese nicht mehr vom Menschen zu trennen und Kompromisse sind nur noch Niederlage, nicht mehr Ziel einer Debatte. Ich glaube, dass dieser Prozess zu einer Überschätzung der eigenen (Meinungs-)Macht führt, die ich fast als „Memetischen Scheinriesen“ betitelt hätte: gemeinsam mit all den anderen, die meine Identitätsgruppe bilden, teile ich eine Meinung und plötzlich sind wir viele. Ich habe dieses Momentum im Bereich der Meme wiederholt mit dem Gefühl verglichen, das entsteht, wenn viele ein Feuerzeug auf einem Konzert in die Luft strecken. Auch hier passt das Bild des Scheinriesen, der von weitem größer und mächtiger scheint als er wirklich ist.

Im Rahmen der Debatte um die Reaktion der Bevölkerung auf die Austragung der Fußball-WM in Katar fiel mir auf, dass diese Form der scheinriesigen Meinungsmacht eine zweite Seite hat, die am bestem mit dieser Variante des Two Guys on a bus-Memes beschrieben ist.

Dabei handelt es sich um ein Image-Macro des brasilianischen Zeichners Genildo Ronchi, das als moderne Form des zwei-Seiten-einer-Medaille-Sprichworts gelesen werden kann. In diesem Fall jedenfalls ist es die Illustration dessen, was Konrad Lischka hier als Paradox der Gegenwart beschreibt: „Einerseits sehen so viele Menschen ihre individuellen (Konsum)Bedürfnisse als das wichtigste Gut, als absolut schützenswert. (…) Andererseits erscheint genauso viele Menschen das Individuum ganz klein, wenn es darum geht, etwas zu verändern in der Welt.“

Um zu verstehen, wieso dieses Paradox mit dem Scheinriesen-Effekt der memetischen Meinungsäußerung verbunden ist, muss ich ein klein wenig ausholen und auf Steve Covery hinweisen. Von ihm stammt das Konzept der drei Kreise. Er beschreibt diese als Circle of Concern, Circle of Influence und Circle of Control. Man muss sich diese Kreise ineinander liegend vorstellen. Der äußere Kreis beschreibt Dinge, um die man sich sorgen kann (Concern), sehr viel kleiner ist der Kreis derjenigen Dinge, auf die man Einfluss (Influence) nehmen kann und noch kleiner ist jener Kreis, der Dinge umfasst, die man direkt tun kann. Ich finde dieses Muster ist hilfreich, um Grenzen zu ziehen – zwischen den Themen, die mich bedrücken können und jenen, auf die ich Einfluss nehmen kann:

Concern
Dinge, die dir Sorgen machen, bezieht sich oft auf
– allgemeine Stimmungen
– grundsätzliche Fragen

Wer sich nur hier bewegt, fühlt sich schnell überfordert

Influence
Dinge, auf die ich Einfluss habe, erfordert
– gemeinsame Diskussionen
– Kompromissfähigkeit

Wer sich nur hier bewegt, muss viel kämpfen

Controll
Dinge, die du konkret ändern kann, bezieht sich oft auf
– kleine Handlungen
– langsame Veränderung

Wer sich nur hier bewegt, erreicht wenig, spürt aber Selbstwirksamkeit

Covey beschreibt die Kreise mit dem Ziel, sie gut voneinander zu trennen. Er empfiehlt, im Sinn der geistigen Stabilität, genau zu differenzieren, in welchem Kreis sich welches Thema befindet. Anzuerkennen, dass ein Thema außerhalb des Circle of Controll liegt, kann zu einer Befreiung führen (im Meme-Bild oben rechts zu sehen).

Und genau hier sind wir wieder beim memetischen Meinungsaustausch: Durch die Demokratisierung der Publikationsmittel ist die Wahrnehmung der Kreise verändert worden. Wer sich in einer zum Meme gewordenen Meinung eingerichtet hat, gewinnt den Eindruck, den Circle of Influence ausgeweitet zu haben. Andere von der Richtigkeit der eigenen Weltsicht zu überzeugen, wird zu einem wichtigen Antrieb. Man teilt Beiträge, die die eigene Meinung bestätigen – und erliegt damit dem Irrglauben, der Scheinriese habe wirkliche Macht. Das führt zu einer großen Enttäuschung und manchmal auch zu Schuldgefühlen, wenn man feststellt, dass z.B. der private Boykott der Fußball-WM in Katar nicht zur Veränderung der Strukturen der FIFA führen wird (im Meme-Bild oben links zu sehen). Ein ähnlicher Wahrnehmungsfehler liegt vor, wenn Menschen in Fernsehkameras sagen, dass sie nicht mehr wählen gehen, weil sie beim letzten Mal anders entschieden hätten als das Wahlergebnis – und sich deshalb nicht repräsentiert fühlen.

Neben einem Streit-Training und digitaler Alphabetisierung für die Debatte in memetischen Ökosystemen braucht eine gelingende Kommunikation vor allem demokratisches Erwartungsmanagement, ein gesundes Gefühl für die eigenen Circle, also für die Wirkung dessen, was man durch eigenes Handeln und Äußern verändern kann: es ist einfach ungesund, strukturelle Probleme einzig durch persönliche Entscheidungen lösen zu wollen. Politische Probleme können nicht einzig durch privates Handeln zu einer Lösung geführt werden – sie brauchen auch politische Entscheidungen. Diese Wahrnehmung von Privatem und Politischem, von konkret und strukturell, ist durch das zur Aufgabe gewordene Versprechen, das Private sei politisch ein wenig aus dem Blick geraten.

Als ich hier darüber schrieb, dass Menschen Meme-Meinung zur Identitätsbildung und als Methode zur persönlichen Sicherheit in unsicheren Zeiten nutzen, ergab sich daraus die Schlussfolgerung, sie nicht mit mehr Informationen oder Wahrheit zu versorgen, sondern die Frage zu stellen, woher die große Unsicherheit erwächst, die ihre Lösung in Meme-Meinungen sucht – und deshalb mehr in gesellschaftlichen Zusammenhalt und Stabilität zu investieren. Wenn wir nun das Einfluss-Paradox der Gegenwart betrachten, folgt daraus meiner Meinung nach die Förderung eines gesunden Erwartungsmanagements. Denn die Enttäuschung fördert Schuldgefühle, die wiederum einer wirklichen Form von Toleranz im Wege steht.

Unlängst las ich irgendwo den Satz „Ich kann die Welt nicht verändern, aber ich will es versuchen“ als Motivation zum politischen Handeln. Das klingt irgendwie nett, ist aber das Kernproblem des Dilemmas aus dem Meme-Bild oben: die übertriebene Erwartung, die Welt vielleicht doch ändern zu können, führt zu einer Überforderung und einer Missachtung der kleinen Veränderungen – und am Ende zum Hass auf all jene, die anderer Meinung sind.

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Dieser Text stammt aus dem monatlichen Newsletter Digitale Notizen,
in dem ich mich immer wieder mit dem Thema Streitkultur und Social Media befasse – zum Beispiel: Die Glut-Theorie der öffentlichen Debatte (Juni 2022), „Die Anderen anders sein lassen“ (Mai 2022), „Danke für Ihren Verstand“ (Januar 2022) „Ich mag Twitter“ (November 2021) „Ungerecht!“ (Januar 2021) „Die Meinungsmodenschau“ (November 2020), „Die Nazis werden uns das Internet wegnehmen“ (März 2020), „Die Empörung der anderen“ (Februar 2020), „Weniger Recht haben müssen“ (November 2018), „Fünf Fitness-Übungen für Demokratie“ (Juli 2018) „Freiheit zum Andersdenken“ (Juli 2017), „Streiten lernen – für ein besseres Internet“ (Januar 2017).

Hier kann man ihn kostenlos abonnieren.

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