Der beiläufige Zauber von Social-Media (Digitale August-Notizen)


Dieser Text ist Teil der Juni-Folge meines monatlichen Newsletters „Digitale Notizen“, den man hier kostenlos abonnieren kann. Das Foto oben stammt von unsplash.


Die Belanglosigkeit. Es geht um die Belanglosigkeit. Jahrelang entzündete sich nahezu jede kritische Wortmeldung über die Unnötigkeit von Social-Media genau daran: an der Belanglosigkeit der Beiträge!

Während wir durch die Veränderungen in der Social-Media-Sphäre – Tiktok ersetzt Twitter als Global Town Square und Threads greift das strauchelnde Twitter an – daran erinnert werden, dass das Internet vor allem durch Transformation angetrieben wird, entsteht eine erstaunliche digitale Nostalgie: Der Begriff des Cyberboomers macht die Runde.

Egal aus welchem Winkel man die Veränderungen beobachtet, es wird deutlich, dass gerade (schon seit ein paar Monaten) in Sachen Social-Media einige grundlegende Ideen ins Wanken geraten. Die Entwicklung von Dark-Social hin zu geschlossenen Räumen, die keine öffentlichen Kommentarschlachten mehr erlauben, ist unbestreitbar. BeReal ist nur das bekannteste Beispiel für diese Privatisierung der Social-Media-Nutzung.

Als ich diese Woche in der Dlf-Kultur-Sendung ,breitband‘ aber über die Besonderheit von Twitter befragt wurde, fiel mir auf, dass dem früher Kurznachrichtendienst genannten Angebot schon vor dem Musk-Murks etwas verloren gegangen ist, was BeReal und vor allem das Format Storys fast unbemerkt übernommen hat: die Beiläufigkeit.

Die lockeren sozialen Bindungen sind nicht zu unterschätzen. Ich habe sie mal mit digitaler Nachbarschaft verglichen. Denn:

Mir hilft das Bild von der digitalen Nachbar:innenschaft um besser zu verstehen, was wir da gemeinsam machen in den sozialen Netzwerken. Wir führen lockere virtuelle Beziehungen, die sehr handfeste (auch positive!) Folgen haben können. So wie Brot&Salz durch echte Fenster gereicht werden, können wir durch virtuelle Fenster Reisetipps, Nachmieter:innen oder Spendensammlungen organisieren.

Auf diese Weise auf soziale Medien und ihren potenziellen Erfolg zu schauen, hilft dabei die Frage zu beantworten, ob Threads das neue Twitter werden kann. Dass dort sehr viele und auch glaubhafte Accounts sind, ist sicher ein Vorteil. Allerdings hatte auch Google-Plus zahlreiche Accounts und kam deshalb nicht auf ein erfolgreiches Niveau.

Um dies zu erreichen, so meine Einschätzung braucht es den beiläufigen Zauber, die „ambient awareness“ wie Clive Thompson es schon 2008 mit Blick auf das damals noch neue Twitter formuliert hat: Um wirklich erfolgreich zu werden, müssen soziale Netzwerke das erreichen, was Stories auf WhatsApp, BeReal und Instagram heute auszeichnet. Sie müssen belanglos werden. Beiläufigkeit scheint mir neben den klassischen Hygienefaktoren wie Verlässlichkeit, Moderation und chronologischer Timeline der bisher unbekannten Faktor für den Erfolg sozialer Netzwerke.

Mehr zum Thema in diesem Interview in Deutschlandfunkkultur und hier im Blog:

🧵 die Idee der digitalen Nachbarschaft

🧵 das Konzept ambient awareness

🧵 meine Beschreibung des beiläufigen Zaubers von Live-Events

🧵 mein Lob auf die rhetorische Figur des Threads auf Twitter


Dieser Text stammt aus dem monatlichen Newsletter Digitale Notizen, in dem ich mich seit Jahren mit Social Media befasse. Zu dem Thema habe ich auch mehrere Bücher geschrieben.