Wes Anderson, der virale Spiegel, Tom Rosenthal, Barbie, Jenny & Mel (Netzkulturcharts April 2023)


Was geht online? Die Netzkulturcharts sind meine völlig subjektive Antwort auf diese Frage. Ich liste darin Phänomeme auf, die ich inspirierend, interessant oder bemerkenswert finde. Sie sind regelmäßiger Bestandteil meines Digitale Notizen-Newsletters.

Der Begriff „Netzkultur“ ist dabei bewusst offen und der zeitliche Bezug kann schlicht daran liegen, dass mir dieses Phänomen erst in dem Monat aufgefallen ist. Die Charts aus den Vormonaten stehen hier.


Platz 1: Die Wes-Anderson-Ästhetik wird demokratisiert

Als im Sommer 2021 der Film „French Dispatch“ auf dem Filmfest in Cannes gezeigt wurde, memefizierte das Internet ein Foto des Regisseurs Wes Anderson mit drei Schauspieler:innen seiner Casts: gemeinsam mit Timothée Chalamet, Tilda Swinton und Bill Murray wurde Wes Anderson zum Internethit. Dass er jetzt wieder durch die Timelines geteilt wird, liegt aber nicht an der bemerkenswerten Kleidung seiner Schauspieler:innen. Es liegt an der besonderen Ästhetik, die seine Filme auszeichnet. Wir können gerade dabei zusehen, wie diese demokratisiert wird. Untermalt von der Filmmusik von Alexander Desplat (mal die Clips zum Song „Obituary“ anschauen) zeigen Nutzer:innen Clips unter dem Motto „You better not act like you’re in a Wes Anderson Movie when…“ Der Rolling Stone widmet dem Trend einen längeren Text, in dem er die Nutzerin Ava Williams und ihre Reise in New York zum Startpunkt des Memes erklärt. Unerwähnt bleiben dabei aber all die Accounts, die bereits auf die viralen Reise ausgesprungen sind: so gibt es bereits Clips der englischen Fußballclubs Millwall und Crystal Palace, die Stadionbesuche und Training im Anderson-Stil aufbereiten.

Das Meme ist so erfolgreich, dass es bereits Anleitungsclips gibt, die beschreiben, wie jede:r seine eigene Umgebung zum Filmset eines Wes-Anderson-Films machen kann. Und natürlich gibt es auch eine KI-Variante der Anderson-Ästhetik: Hier hat jemand berühmte Politiker:innen mit Hilfe künstlicher Intelligenz als Anderson-Charaktere inszeniert – und so würde der Cast der Harry Potter-Filme aussehen, wenn er im Stile von Wes-Anderson ausgestattet würde.

Platz 2: Der virale Spiegel

Wenn man ein Ei vor einem großen Blatt Papier vor einen Spiegel hält, kann man es … dennoch im Spiegel sehen. Das Erstaunen über dieses Phänomen („Woher weiß der Spiegel, was hinter dem Blatt ist!??!“) hat im April einen kleinen viralen Trend ausgelöst. Menschen haben „du wirst nicht glauben, was passiert“-Clips aufgenommen und den viralen Spiegel als Zauberei umschrieben. Mai Thi erklärt in diesem kurzen Clip, warum das ganze nichts im Magie zu tun hat, sondern reine Physik ist. Zach King hat das Phänomen natürlich auch zum Anlass für einen seiner Zauber-Clips genommen.

Platz 3: Tom Rosenthal: Beautiful Things We Saw on April 4th

Es gibt wenige Künstler:innen, die das Internet so verstanden haben, wie er: Tom Rosenthal nutzt soziale Medien nicht als Marketing-Maschine für seine Musik, Tom Rosenthal spielt mit dem Internet. Als sein Song „Home“ viral ging, nannte Rosenthal sich um und ist nun auch als Edith Wiskers webbekannt. Er schrieb April-Scherz-Songs und widmete dem Netztrend Wordle ein eigenes Lied. Vor einem Jahr nun bat er Nutzer:innen, ihm schöne Dinge zu sagen, die sie am 4. April gesehen hatten. Tom Rosenthal nahm die Einsendungen und machte daraus einen Song, der passender Weise „Beautiful Things We Saw On April 4th“ heißt.

Platz 4: Barbieselfie

Sehr banal und doch effektiv: Um den Barbie-Film zu bewerben, haben die Macher:innen hinter dem Projekt die Seite barbieselfie.ai ins Netz gestellt und dazu die Aufforderung formuliert: „Welcome to Barbie Land, wo jeder Barbie ist (oder Ken). Unten klicken und eine Ikone werden.“ Das stimmt nicht ganz, denn niemand wird zu die Bildmontage (die übrigens nix mit AI zu tun hat) zu einer Ikone. Es geht lediglich um Werbung. Der Barbie-Film kommt ins Gespräch, wenn möglichst viele Menschen ihre Selfie auf die Barbie-Werbung packen. Es ist ein bisschen albern, aber eben auch lustig – deshalb hat der Marketingtrick auch mit erwischt ;-)

Platz 5: Jenny und Mel „Gefühle sind kein Fleischersatz“

Anke Engelke und Bastian Pastewka nehmen an der aktuellen Staffel „Last one Laughing“ auf Amazon Prime gar nicht teil, aber sie sind dennoch Gewinner der jüngsten Folgen. Sie spielen das Musiker-Duo „Jenny und Mel“ und haben dem Netz mit „Shoo Shoo Shoo“ einen besonders hartnäckigen Ohrwurm geschenkt. Denn die Schlager-Parodie wird zur Untermalung zahlreicher Clips weitergenutzt. Eben eine sehr gegenwärtige Form des Marketings für die Prime-Serie, über die ich hier schon ausführlicher geschrieben habe.


🎵 Ungebetene Ohrwürmer* des Monats 🎵

  1. Alexander Desplat „Obituary“ (French-Dispatch-Soundtrack)
  2. Jenny & Mel „Shoo Shoo Shoo“ (Pastewka & Engelke)
  3. Coi Leary: „Players“
  4. David Kuschner „Daylight“
  5. Tom Rosenthal: „Beautiful Things We Saw On April 4th“

* in dem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ nutze ich Ohrwürmer als Metapher um die Wirkung von Memes zu beschreiben. Deshalb ist es nur konsequent, sie nicht nur metaphorisch, sondern eins-zu-eins zu nehmen.


Besondere Erwähnung

Dass in NRW die Abi-Prüfungen wegen technischer Probleme verschoben werden mussten, ist beispielhaft für das besondere Verhältnis, dass man hierzulande zum Netz hat. Es ist eine Geschichte über das digital viral germany ;-)

Dieser Tiktok-Account hat angeblich den Jungen gefunden, dessen „ich will Bauarbeiter werden“-Aussage zu einem deutschsprachigen Meme wurde. Der Junge habe geantwortet, dass der Clip ohne sein Einverständnis verbreitet wurde – und dass er nicht mehr Bauarbeiter werden will.

Viggo Venn hat an der britischen Castingshow „Britains Got Talent“ teilgenommen – und das Publikum mit einem Westen-Trick für sich eingenommen (den er übrigens bereits vor Jahren und mit kürzerem Haar schon bei der so genannten Gong-Show aufgeführt hatte), der ihn sehr eng mit gelben Warnwesten verbindet. Diese trägt er nämlich auf der Bühne (Spoiler: sehr viele davon übereinander). Diese Idee hat er jetzt auch auf Tiktok verlängert: hello tiktok nennt er den Clip des TV-Auftritts, der ihm einige Aufmerksamkeit auf der Plattform beschert – und ihn mit der Warnweste auch im Alltag verbindet. Ein guter Trick, um Aufmerksamkeit zu bekommen.

Wie Aufmerksamkeit auf Tiktok verteilt wird, hat deren CEO Shou Zi Chew (der hier die Netzkulturcharts angeführt hat) in diesem unbedingt empfehlenswerten TED-Interview erklärt. Das Gespräch beantwortet die Frage, wie der Tiktok-Algorithmus (hier auch als sprechender Hut beschrieben) Inhalte priorisiert. Er leitet dies als Dreischritt her – von Suche, über den Social-Graph hin zu den Hinweisen, die Tiktok auf Basis der eigenen Präferenzen erstellt. Es lohnt sich, das Video anzuschauen – nicht nur, weil Shou Zi Chew unter anderem Khaby Lame vorstellt. Vor allem die Beschreibung des Empfehlungs-Algorithmus ab Minute 6 im Clip ist interessant.


Mehr zum Thema Netzkultur gibt es in dem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ und im monatlichen Newsletter ,Digitale Notizen‘.