Was haben der frühchristliche Denker Markion und die britische Pornodarstellerin Bonnie Blue gemeinsam? Sie dienen beide als anschauliche Beispiele für die ungewünschten Folgen lauten Widerspruchs.
Über den vermutlich 85 in Sinope (in der heutigen Türkei) geborenen Begründer des Markionismus (einer der einflussreichen christlichen Richtungen des 2. Jahrhunderts) wissen wir heute nicht viel. Die deutsche Wikipedia schreibt über ihn: „Genaue biografische Daten sind nicht überliefert, die wenigen Angaben stammen zudem meist von Gegnern.“ Anders formuliert: dass und was wir heute von Markion und seinen Thesen wissen, haben wir Menschen zu verdanken, die ihm widersprachen. In der Wikipedia heißt es dazu: „Die Werke Markions sind nicht durch Handschriften überliefert, sondern nur durch Zeugnisse seiner Gegner“. Und in der englischen Wikipedia wird ergänzt: „Viele Gelehrte gehen davon aus, dass es möglich ist, einen großen Teil des antiken Markionismus zu rekonstruieren und abzuleiten anhand dessen, was spätere Kritiker, insbesondere Tertullian, über Markion sagten.“
Als ich unlängst im Economist von der britischen Pornodarstellerin Bonnie Blue las, musste ich an den Frühchristen Markion denken. Nun könnte das Beschäftigungsfeld der beiden kaum weiter auseinander liegen – doch sagt Bonnie Blue in dem Economist-Gespräch etwas, was sehr an die durch Widerspruch getriebene Verbreitung des Markionismus erinnert. Sie erklärt, wie ihre Videos viral gehen: durch Widerspruch, der sich in so genannten Backlash-Videos ausdrückt. „Wenn ich erfolgreiche Tiktoks mache, rechne ich die Backlash-Videos mit ein. Diese sorgen dafür, dass meine Inhalte virale Verbreitung erfahren. Einige Männer, mit denen ich schlafe, mache auch Tiktoks oder Social-Media-Videos. Aber es sind die Ehefrauen, die Backlash-Videos über mich machen, die die Inhalte an eine breitere Zielgruppe bringen.“
Im Rahmen der Economist-Berichterstattung wird dies in Bonnie Blues Arbeit als Only-Fans-Akteurin eingeordnet. Es sagt aber fast noch mehr über die Art und Weise, wie Viralität entsteht: durch Widerspruch!
„Wenn du virale Videos machst, geht es häufiger um den Backlash als um das positive Feedback“, sagt Bonnie Blue im Economist-Gespräch und man muss nicht bis zu Markion zurückgehen um zu erkennen: das gilt nicht nur für Pornografie, es gilt genauso auch für Politik.
Ich habe diese Form der (Online-)Debatte mal mit Hilfe der Glut-Theorie zu beschreiben versucht: Er der Widerspruch – also das Pusten in die glühenden Kohlen – sorgt dafür, dass eine Debatte aufflammt und zu lodern beginnt. Mittlerweile ist aber ein weitere deutlich erkennbarer Aspekt hinzugekommen: die Erwähnung in klassischen Medien.
Online-Aktivitäten werden dann erfolgreich, wenn sie Widerspruch erzeugen – und in klassischen Medien aufgegriffen werden. Wie das funktioniert, kann man am aktuellen Spiegel sehen. Das Nachrichtenmagazin schenkt im größtmögliche Aufmerksamkeit und erzählt dann im Text von einem gemeinsamen Auftritt Markus Söders mit Cathy Hummels: „Ihre Welten mögen sich unterscheiden, doch Söders und Hummels’ Strategien und Ziele ähneln sich erstaunlich: Ein Leben ohne Selbstvermarktung scheint ihnen möglich, aber sinnlos. Beide brauchen Aufmerksamkeit. Sie, um ihre Reichweite und damit ihre Werbepartnerschaften zu sichern. Er, um sich als volksnaher Politiker zu positionieren.“
In der Logik der Widerspruchs-Aufmerksamkeits von Bonnie Blue ist das der größte Erfolg von Online-Aktivitäten: wenn klassische Medien die eigenen Beiträge aufgreifen – völlig egal, ob bestätigend oder widersprechend. (Fotos: Screenshots & Unsplash)
Mehr zum Thema im Blog:
- Der republica-Vortrag „Mehr Aufmerksamkeit für Aufmerksamkeit„
- Die Glut-Theorie der öffentlichen Debatte im Deutschlandfunk
- Die Annahmen der Anderen
- Wer bestimmt über deine Aufmerksamkeit?