Irgendwann zu Beginn der Nullerjahre hatte ich große Freude daran, mit Teaser auf jetzt.de das zu tun, was die FAZ damals gerne mit Überschriften machte: Anspielungen und Zitate einbauen. Im so genannten Tagesdienst bestand die Arbeit unter anderem darin, gute Texte aus der SZ und dem so genannten Kosmos zu suchen – und im Teaserkasten zu verlinken.
Wir gingen dieser Arbeit mit Freude und Liebe zum Detail nach. Und wann immer ich Tagesdienst hatte, versuchte ich zu den ausgewählten Texten passende Tocotronic-Referenzen zu finden. Wann immer ich mich durch die Song-Titel gearbeitetet hatte, landete ich auf der damals sehr aktiven Seite tocotronix.de, die ein umfangreiches Text-Archiv anbot. Denn das Besondere an den Lyrics der Band war schon damals: auch hinter den sloganhaften Titeln bieten die Texte jede Menge Möglichkeit zur Anspielung.
Mir machte dieses Fährtenlegen so viel Spaß, dass ich noch heute gerne daran denke. Nicht nur, dass die Referenzen entdeckt wurden, vor allem die Momente, in denen sich jemand in der Bezugnahme verstanden fühlte, bleiben mir in guter Erinnerung.
Ich erzähle das alles, weil ich mir damals vieles ausmalen konnte (fragt mal meine Kolleg:innen), aber eines sicher nicht: Dass diese Songtexte mal als Reclambuch erscheinen würden.
Das gelbe Tocotronic-Heft ist dieser Tage erschienen und ich habe es mir mit großer Vorfreude (und extra-Porto) auf der Verlagswebsite bestellt (Amazon hätte es mir ohne Porto geschickt) und ich muss sagen: Band 14756 ist eines der besten Reclamhefte, das ich je gelesen habe.
Ausgewählt wurden 35 Tocotronic-Texte, die einen guten Überblick über das Schaffen der Band geben (wenngleich einer meiner Lieblingssongs „Der achte Ozean“ fehlt), das im Nachwort von Stephan Rehm Rozanes sehr gut historisch eingeordnet und beschrieben wird. Vor allem aber das abschließende Gespräch mit Songwriter Dirk von Lowtzow macht mir gute Laune. Es knüpft bei genau der Ostereier-Suche an, die Anfang des Jahres im Reflektor-Podcast besprochen wurde. Dirk distanziert sich darin vom „vom genialen männlichen Künstlersubjekt, wie Dylan es verkörpert“ und stellt dem das Tocotronic-Schaffen entgegen:
„Was wir machen, ist dagegen eher kollektiv, nicht auktorial, vielleicht zufällig zu nennen, collagenhaft, found footage.“
Das lässt sich nicht nur quasi rückwärts auf meine damalige Ostereier-Suche und das damit verbundene Fährtenlegen übertragen – es fasst auch perfekt zusammen, was mich an Tocotronic seit jeher faszinierte: diese Form der Referenz- und Sample-Kultur, die im Hiphop mit Musik und Sound betrieben wird, zeigt sich bei Tocotronic besonders auf der Texte-Ebene. Von Lowtzow sagt in dem Gespräch zum Beispiel: „Texte sind auch fast wie Samples.“
Genau das hatte ich im Lob der Kopie beschreiben wollen, als ich die Geschichte des Textes von Jenseits des Kanals nacherzählte – als Beweis für die Referenzkultur, die (Pop-)Kultur schon immer prägte. Im Reclamheft ist diese Episode übrigens auch erwähnt, ganz am Ende unter der Überschrift „Tocotronic für Fortgeschrittene“. Hier werden quasi als „Sekundärliteratur“ 31 Song-Referenzen benannt und eingeordnet – darunter auch der Flaubert-Bezug vom Kanal.
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- Ostereier-Suche – das Reflektor-Gespräch
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