Was geht online? Die Netzkulturcharts sind meine völlig subjektive Antwort auf diese Frage. Ich liste darin Phänomeme auf, die ich inspirierend, interessant oder bemerkenswert finde. Sie sind regelmäßiger Bestandteil meines Digitale Notizen-Newsletter
Auf Tiktok reposte ich übrigens Clips, die mir besonders auf- oder gefallen.
Auf Instagram komMEMEtiere ich dann und wann Aktuelles – und erzähle Hintergründe zu Memes.
Platz 1: Zah1de won this trend
Der Song „Fight the start“ der Band Kilians aus dem Jahr 2007 hat über 5,5 Millionen Streams auf Spotify. Das ist nicht nur sehr viel mehr als alle ihre anderen Songs, es ist auch erstaunlich, weil die „Strokes aus dem Ruhrgebiet“ seit 2013 aufgelöst sind. Dass „Fight the start“ zwischenzeitlich sogar in den Top10 der Charts landete, liegt am Zauber der Kopie: Der Rapper Cro hatte die eingängige Melodie für seinen Song „Einmal um die Welt“ gesamplet.
Achtzehn Jahre nach der „Fight the start“-Veröffentlichung ist die Melodie jetzt wieder da – und das liegt an dem Berliner Tanzstudio Lunatix und seiner bekanntesten Tänzerin: Zahide Kayaci. Unter dem Namen Zah1de ist sie seit 2023 so erfolgreich auf Tiktok, dass sie dort nicht nur unzählige Aufrufe generiert, sondern auch schon drei Songs veröffentlicht hat. Nach „Tiktok sportlich“ und „Ballert lautlos“ ist Anfang April ein Mashup ihres Songs „Mona Lisa Motion“ erschienen: mit der Melodie aus Dinslaken!
Denn die „Einmal um die Welt“-Version von Zah1des Songs ist natürlich auch wegen des Ohrwurms äußerst populär – und macht die Tänzerin und Rapperin auch außerhalb der Tiktok-Welt sehr bekannt. Im offiziellen Musikvideo referenziert sie nicht nur Cro mit einem Plüschtier, sie rappt auch anspielungsreich („Chabos wissen wer Zah1de ist“) und sehr eingängig („Deine Meinung f* you“). Mich erinnert diese Geschichte – wegen der Referenz-Historie – an den Spitzenplatz der März-Charts (hier mehr Hintergrund zu „Anxiety“ von Doechii). Der Beyond-Gossip-Account auf Tiktok leitet aber recht schlüssig her, warum Zah1des Geschichte eher an Addison Rae erinnert.
In der bisher noch geringen Berichterstattung über Zah1de spielen vor allem die Hate-Kommentare gegen sie eine große Rolle. Dass sie sich über diese aber hinweggesetzt habe, ist Kern des „Zah1de Won This Trend“-Trends auf Tiktok, in dem ihre Fans ihren Erfolg feiern.
Platz 2: Die Treppe ist nicht genormt
Ende Februar hat die Tiktok-Nutzerin ballischrott ein Video hochgeladen, in dem sie sich beim Herabsteigen einer sehr flachen Treppe zeigt. Dazu hört man sie schimpfen, dass es nicht leicht sei diese Stufen zu benutzen „Weil die Treppe ist nicht genormt„.
Dieser Satz ist mittlerweile zu einem running gag geworden – und ballischrott hat ein eigenes Antwort-Video aufgenommen. Denn überall referenzieren Accounts diesen Satz. Der Originalton wird allein auf Tiktok in fast 2000 Videos genutzt – zum Beispiel von sehr vielen Fußballclubs (hier der offiziellen FC Bayern-Account in der Allianz Arena) und von der ZHDK in Zürch, wo sich nach dem Posten herausstellte: die schlimme Treppe ist sogar genormt.
Platz 3: Italian Brainrot

KI-Generierte Figuren mit italienisch klingenden Quatschnamen? Das ist der Kern des Meme-Trends, der unter dem Titel „Italian Brainrot“ Menschen verwirrt und (deshalb?) begeistert: Rechts im Bild ist „Bombardiro Crocodilo“ zu sehen, einer der Pioniere dieses Trends, über den die taz schreibt: „Was auf den ersten Blick wie Verblödung aussieht, hat für viele Beobachter auch künstlerisches Potenzial. Ist das, was da passiert, digitaler Dadaismus? Manche feiern die Bewegung als ironisches Protestgenre – eine absichtsvoll sinnlose Antwort der jungen Generation auf eine ebenso sinnlose Welt.“ Ich finde es lohnt sich, diesem Gedanken nachzuspüren – zum Beispiel in der sehr guten Analyse bei „How to do things with Memes“, die das Phänomen mit Foucault zu erklären versucht.
Mit Italien hat das Phänomen übirgens gar nichts zu tun (außer dem Klang der Sprache), es geht viel mehr um die Frage, was wirklich ist im Zeitalter von KI (sehr gute Analyse in diesem Clip).
Platz 4: Lehrer raten Namen
Dass sich Gruppen für ein gemeinsames Foto auf einer Treppe (genormt!) positionieren und dann in Schwarz-Weiß nach oben schauen (hier ein Beispiel) haben in den vergangenen Jahren zahlreiche Abschlussklassen durchgespielt.
Ein für mich neues Phänomen hat in diesem Monat sogar Horst Lichter fürs ZDF genutzt. Dabei nimmt er die Rolle der Lehrerin oder des Lehrers in einer Abschlussklasse ein: Blick in die Kamera, Rücken zum Team (bzw. zur Klasse).
Die Klasse tritt im Rücken der Autoritätsperson auf und diese muss die Namen der jeweiligen Person nur an der Stimme erraten. Zahlreiche Abi- und Abschluss-Kurse haben das in diesem Monat gezeigt – und damit quasi nebenbei ein neues Bild von Lehrerinnen und Lehrern produziert. Denn natürlich besteht der Reiz dieses Spiels darin, dass diese nicht alle Stimmen erkennen. Genau diese Möglichkeit des Scheiterns definiert die Lehrer:innen, die hier mitmachen: Sie gewinnen ihre Autorität eben nicht mehr aus der (vermeintlichen) Unfehlbarkeit, sie zeigen sich verletzlich bzw. fehlerhaft und gewinnen so Autorität.
Hier das Beispiel vom Bio-LK von Frau Nowak aus Paderborn.
Platz 5: Action-Figuren

Ich habe ChatGPT gebeten, mir eine Action-Figur mit der Hauptfigur von Platz 3 dieser Charts zu erstellen: Herausgekommen ist dieses schöne Bomardiro Crocodilo“-Motiv. Denn dieser Monat wäre nicht vollständig, wenn wir nicht auf das Phänomen verweisen würden, das alle Timelines sehr stark beeinflusst hat im April: die Möglichkeit mit AI Action Figuren von sich selbst erstellen zu lassen.
Der Trend hat einen KI-Aspekt (den ich hier im Blog versucht habe zu beschreiben) und einen Social-Media-Aspekt (den ich auf komMEMEtare kommentiert habe).
Ungebetene Ohrwürmer* des Monats
1. Zah1de & Cro: Mona Lisa Motion (Einmal um die Welt)
2. Doechii: Anxiety
3. Noah Kraus & Wir sind Helden: „Nur ein Wort“
4. Lola Young: Messy
5. Kendrick Lamar: Peeckaboo
* in dem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ nutze ich Ohrwürmer als Metapher um die Wirkung von Memes zu beschreiben. Deshalb ist es nur konsequent, sie nicht nur metaphorisch, sondern eins-zu-eins zu nehmen.
Besondere Erwähnung
Zeit-Feuilletonist Jens Jessen reagiert auf Skibidi-Toilet – und das ist ziemlich gut.
Kiarababa ist das Schlimmste, was Yannick passiert ist. So rappt sie in dem Song, der durch seine appellativen Schrei gerade bekannt wird: „Yannick! Ich hab dein Leben gefickt.“
Der Spiegel hat einen Shortcut zu „Sigma Boy“ veröffentlicht – und geht der Frage nach, woher er kommt und was russische Propaganda damit zu tun haben könnte.
Der Tiktoker Streichbruder, der in dem Clip auch auftaucht, hat unterdessen Ärger in Japan.
Der „Sie weiß es noch nicht aber…“-Trend gefällt mir ganz gut.
Die australischen Twinnies sind diesen Monat nochmal extra viral gegangen.
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