Ein öffentlich-rechtlicher RSS-Reader und 29 weitere Ratschläge für ein freies Internet (Digitale-Februar-Notizen)

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Dieser Text ist Teil der Februar-Folge meines monatlichen Newsletters „Digitale Notizen“, den man hier kostenlos abonnieren kann.
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Erklären Sie mir Demokratie als wäre ich ein Sechsjähriger: Was ist das Besondere an unserer Staatsform? Warum glauben wir, dass sie gut ist? Haben Sie eine Antwort auf diese Fragen? Mich haben sie in den vergangenen Wochen beschäftigt und ich glaube eine zentrale Antwortet könnte heißen: Der Meinungswechsel. Ich glaube, dass die Freiheit, seine Meinung ändern zu können so etwas wie das Alleinstellungsmerkmal der Demokratie ist. Es ist erlaubt zu sagen: „Ich habe mich geirrt“ oder „Du hast mich überzeugt“ und vor allem „Ich ändere meine Meinung“. (Mehr dazu: „Freiheit ist immer die Freiheit zum Andersdenken“ und in der Vorstellung des Subreddits Change My View bei Wired)

Dafür dass die Meinungsänderung so eine zentrale Bedeutung für die Demokratie hat, ist ihr Image aber erstaunlich schlecht. Als der – die Älteren werden sich erinnern – Hoffnungsträger Fast-Außenminister Martin Schulz in diesem Februar seine Meinung zum Thema „Mitglied im Kabinett Merkel“ änderte, hagelte es Häme und Betrugsvorwürfe. Er sei ein Lügner, las ich und dass er sich nicht an sein Wort halte. Dass er aufgrund der geänderten Umstände vielleicht seine Meinung angepasst haben könnte, wurde gar nicht erst in Erwägung gezogen.

Ich finde Martin Schulz hat eine ganze Menge falsch gemacht und er hat überhaupt nicht erklärt, warum er Außenminister werden wollte, aber dass er seine Meinung geändert hat, kann ich ihm nicht vorwerfen. Ich kann mich nicht denen anschließen, die ein merkwürdiges Ideal der Standfestigkeit von Politiker*innen einfordern. Ich wünsche mir im Gegenteil, viel mehr Menschen, die die Fähigkeit aufbringen, ihre Meinung zu ändern (und das – wenn sie Politik machen – auch öffentlich erklären). Ich glaube, dass dies ein Kern gelebter Demokratie ist, wenn wir anerkennen, dass wir falsch liegen, dass wir unsere Meinung ändern können. Der Systemische Coach Michael Kurth aus Minden hat das in der Sprache des Rappers Curse (der er auch ist) in seinem dieser Tage veröffentlichten Album so auf den Punkt gebracht:

Was heißt eigentlich real bleiben?
Heißt real bleiben: nicht anders werden, aus Wandel lernen?

Regelmäßige Leser*innen werden sich nicht wundern, dass ich als Shruggie-Freund dieser rhetorischen Frage zustimme. Ich glaube, dass sich in dieser Haltung zum Neuen und zum Wandel auch etwas ausdrückt, was ich die demokratische Verfasstheit einer Gesellschaft nennen würde. Denn nur wenn wir die Frage beantworten können, was Demokratie ausmacht, können wir auch beginnen, diese zu verteidigen. Damit beziehe ich mich nicht nur auf die Reden, die Cem Özdemir, Philipp Amthor und Wolfgang Kubicki in Richtung AfD im Bundestag gehalten haben. Ich meine die persönliche (1) und die gesellschaftliche (2) Verfasstheit in diesem Land.

Ich glaube, jede und jeder kann auf beiden Ebenen an der Antwort auf die Frage arbeiten: Wo lebst du eine offene demokratische Haltung?

Darauf gekommen bin ich, als ich die 25 Prinzipien erwachsenen Verhaltens las, die John Perry Barlow notierte als er 30 Jahre alt wurde. Er selber bezeichnete sie später mal als kaum verhandelbare Plattitüden von der Sorte, die Polonius an Hamlet richtet. Anders formuliert: Vielleicht sind es Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft, Selbstverständlichkeiten, an die wir uns immer mal wieder erinnern sollten: Leitlinien, an denen jede/jeder abmessen kann, wie offen und pluralistisch sie/er durch die Welt geht.
Ich erwarte keine perfekte Erreichung dieser Prinzipien“, schrieb Barlow unter die Liste der 25 Punkte. „Ich poste sie dennoch als Standard meines Verhaltens als Erwachsener. Sollte mich einer meiner Freunde oder Kollegen dabei erwischen, wie ich sie breche: Lasst mich auffliegen!

Ich finde diese Liste liest sich wie ein erwachsener Ratschlag zu einem zivilisierten, demokratischen Umgang miteinander – eine besondere Form der Netiquette:

1. Sei geduldig, was auch passiert.
2. Vermeide üble Nachrede: Übertrage Verantwortung, nicht Schuldzuweisungen. Sag nichts über andere, was du ihnen nicht auch ins Gesicht sagen würdest.
3. Du solltest nicht davon ausgehen, dass die Motive anderer ihnen weniger edel erscheinen als deine Motive dir selber.
4. Erweitere deinen Möglichkeitssinn.
5. Belaste dich nicht mit Dingen, die du in Wahrheit gar nicht ändern kannst.
6. Erwarte von anderen nicht mehr, als du selbst leisten kannst.
7. Halte Mehrdeutigkeit und Unklarheit aus.
8. Lache regelmäßig über dich selbst.
9. Kümmere dich darum, was richtig ist, und nicht darum, wer Recht hat.
10. Vergiss nie, dass du dich irren könntest – auch wenn du dir sicher bist.
11. Führe keine Hahnenkämpfe.
12. Denke daran, dass dein Leben auch anderen gehört. Riskiere es nicht leichtsinnig.
13. Du sollst nicht lügen – aus welchem Grund auch immer. (Unterlassungslügen sind manchmal erlaubt.)
14. Erkenne die Bedürfnisse der Menschen um dich herum und respektiere sie.
15. Vermeide das Glücksstreben. Versuche dein Ziel zu definieren und verfolge es.
16. Reduziere deinen Gebrauch des ersten Personalpronomens.
17. Lobe mindestens so häufig, wie du tadelst.
18. Gestehe deine Fehler freimütig und frühzeitig ein.
19. Werde der Freude gegenüber weniger misstrauisch.
20. Verstehe Demut.
21. Denke daran, dass Liebe alles vergibt.
22. Fördere Würde.
23. Lebe unvergesslich.
24. Liebe dich.
25. Bleibe beharrlich.

¯\_(ツ)_/¯

„Für mich war Barlow immer so etwas wie der Bürgermeister des Internet“, schreibt Kevin Kelly in seinem Nachruf auf den Autor dieser 25 Punkte, der am 7. Februar im Alter von 70 Jahren gestorben ist. Den Status als Bürgermeister hat John Perry Barlow sich durch sein kontinuierliches Eintreten für ein freies, offenes und dezentrales Internet erarbeitet – nicht nur auf der persönlichen (1), sondern eben auch auf struktureller Ebene (2): 1990 gründete er gemeinsam mit John Gilmore und Mitch Kapor die EFF (Electronic Frontier Foundation) und 1996 formulierte er die Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace, die ironischer Weise alles Bürgermeisterhafte in Frage stellt.

Vielleicht ist es ein Zufall, vielleicht fällt sein Tod aber tatsächlich mit dem Beginn einer Entwicklung zusammen, die dieses freie, dezentrale Web wieder stärker in den Blick nimmt. Ganz sicher gibt es eine zeitliche Überschneidung mit der Debatte über die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die am Ende dieser Woche mit einer Abstimmung in der Schweiz einen neuen Höhepunkt erreicht. Nimmt man diese zeitlichen Überschneidungen zusammen, kann man mit Thomas Beschorner und Caspar Hirschi fordern: Wir brauchen den öffentlichen-rechtlichen Rundfunk – weil er auf der strukturellen Ebene zur demokratischen Verfasstheit der Gesellschaft beiträgt. Die Schweizer Wissenschaftler schreiben in einem Gastbeitrag bei Zeit-Online: „Das öffentlich-rechtliche Informationsangebot verfälscht nicht einen funktionierenden privaten Wettbewerb, sondern es korrigiert ein demokratisch gefährliches Marktversagen.“ (Mehr zum Thema öffentlich-rechtlicher Rundfunk bei Armin Wolf und in dieser Kolumne von Carolin Emcke bei der SZ)

Womit wir wieder beim Bürgermeister des offenen Internet sind. Denn vielleicht braucht auch der private Plattform-Kapitalismus im Web eine solche Korrektur. Vielleicht brauchen wir ein öffentlich-rechtliches Engagement im Web, das mithilft, ein offenes, dezentrales Internet zu fördern. Seit ich am Ende des vergangenen Jahres auf Bitten von Jörgen Camrath den Wunsch äußerte, RSS möge eine Renaissance erleben, fallen mir immer mehr Hinweise dafür auf, dass es tatsächlich so kommen könnte. Anfang des Monats listete die US-Ausgabe von Wired eine Sammlung von Alternativen zum Facebook-Feed auf, über die man künftig seine Nachrichten im Web beziehen könne. Denn der vergangene Monat war auch geprägt von der Frage, wie Facebook eigentlich mit Nachrichtenanbietern umgeht.

Ein Ergebnis könnte sein, dass diese sich von Facebook lösen. Dass sie wieder auf dezentrale Technologien wie RSS setzen, bei denen man Informationsangeboten folgen kann, ohne dass eine zentrale Plattform diese nach nicht nachvollziehbaren Regeln filtert und gewichtet. Diese Idee ist weder cool (wie der aktuell gehypte Dienst Vero) noch sonderlich neu. Ihr Kern ist dieser Tage 20 Jahre alt geworden. RSS ist eine sehr grundlegende Idee des dezentralen Web und ich frage mich am Ende dieses Monats mit all seinen Debatten: Wie wäre es eigentlich, wenn wir wieder RSS nutzen würden?

Ich habe dazu fünf weitere Vorschläge aufgeschrieben, die ich auf der strukturellen Ebene (2) den 25 persönlichen Ratschlägen von Barlow ergänzen möchte:

1. Wir brauchen einen öffentlich-rechtlichen RSS-Reader. Unsere Rundfunkanstalten sollten nicht mit Verlegern über Textlängen diskutieren müssen, sondern eine öffentlich-rechtliche Plattform anbieten, in der Leser*innen RSS-Feeds abonnieren können – ohne dass diese gefiltert und gewichtet werden – sozusagen als technologische Grundversorgung eines freien Web. Inhalteanbieter müssten dann nur noch RSS-Feeds bereitstellen (hier gibt es z.B. meinen Autoren-Feed bei der SZ und hier meine Tweets, die ich via publicate.it zu einem RSS-Feed gemacht habe.), über die sie auch Werbung ausspielen dürfen.
2. Wem das zu kompliziert ist, der kann sich das ganze ja als Mediathek für Text vorstellen, in der auch andere, kommerzielle Fremdanbieter ihre Texte (und Werbung) einstellen können.
3. Und für den Fall, dass RSS als uncool gelten sollte: Einfach mal nachschauen, wie Apple das ganze Podcast-Thema gelöst hat: über RSS-Feeds.
4. Ein solcher Ö-R-Reader sollte darüberhinaus auch Funktionen der sozialen Interaktion anbieten. Nutzer*innen können dort Empfehlungen anderer Nutzer*innen lesen und vielleicht sogar diskutieren.
5. Dass der Reader selber Open-Source sein sollte, ist eh klar. Aber auch in Fragen der Gewichtung und Präsentation sollten die Plattformbetreiber neutral und tranparent sein.

Ich habe keine Ahnung, wieviel Geld dafür nötig wäre, ich bin mir aber sicher, dass wenn man mit der Nachfolge-Organisation des Weltrundfunkvereins spricht, es überhaupt kein Finanzierungsproblem geben sollte: Die Europäische Rundfunkunion könnte einen solchen Reader DSGVO-konform auf den Markt bringen und damit nicht nur eine Antwort auf die Frage liefern: Wofür brauchen wir eigentlich öffentlich-rechtlichen Rundfunk? Mit einem solchen Angebot gäbe es auf einmal auch eine europäische Antwort auf den großen US-amerikanischen Techlash dieser Tage.

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Dieser Text stammt aus dem monatlichen Newsletter Digitale Notizen, in dem man mir beim Denken zusehen kann.

In diesem Newsletter sind z.B. erschienen: „Anleitung zum Unkreativsein“ (Januar 2018) „Newsletter über Newsletter“ (Dezember 2017), „Wir sind unbeugsam“ (Oktober 2017), „Unser Land – unsere Regeln“ (September 2017) „Selbstverpflichtung gegen den Terror“ (August 2017), „Freiheit zum Andersdenken“ (Juli 2017), „Was Medien vom Laufen lernen können“ (Mai 2017), „Fairer Teilen“ (März 2017) „Streiten lernen – für ein besseres Internet“ (Januar 2017), „Digitaler Heimat- und Brauchtumsverein“ (Oktober 2016), „Ein Dutzend Ideen für die Journalistenausbildung“ (September 2016) „Kulturpragmatismus“ (Juni 2016), „Denke kleiner“ (Februar 2016 ) „Social-Media-Gelassenheit“ (Januar 2016).

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