Unter dem Instagram-Beitrag von Deutschlandfunk-Kultur hat jemand geschrieben: „Ich verstehe das tatsächlich überhaupt nicht, als gäbe es nichts anderes mehr und vor allem who cares. Ich verstehe diese ganze Aufregung nicht, sorry!“ Der Kommentar bezieht sich auf einen Beitrag, auf dem ein Lagerfeuer zu sehen ist. Darüber steht: „Es braucht im Jahr 2025 ein Coldplay-Konzert, um das Internet für einen Tag wieder zu vereinen„.
Das ist sehr gut beobachtet (und nebenbei Teil eines gegenwärtigen öffentlich-rechtlichen Auftrags, auch Netzkultur mit der gleichen Kompetenz und Wertschätzung zu begleiten wie andere Aspekte der Kultur): Wir erleben gerade eine virtuellen Lagerfeuer-Moment – und metphorisch versammelte sich das Web in diesen Stunden um eine Szene von einem Coldplay-Konzert aus Foxborough, Massachusetts. Sie trug sich am Mittwoch abend zu und ist mittlerweile in großem Maßstab memefiziert worden. Auf allen Kanälen wird Bezug genommen auf den peinlichen Kuschelmoment – und gleichzeitig zeigt die Reaktion auf den Deutschlandfunkkultur-Beitrag viel von der Grundmechanik solcher Memes und ihrer Faszination.
Denn erst, wenn andere etwas nicht verstehen, kann die eigene Begeisterung als Wert wahrgenommen werden – so kann man die Polarisierungs-Mechanik von Memes auf den Punkt bringen.
Es geht um eine so genannte Kiss-Cam, die das Publikum absucht und Menschen im Bild einfängt, die besonders verliebt aussehen. Diese werden dann auf großer Stadionleinwand gezeigt – und von Coldplay-Sänger Chris Martin kommentiert. Was am Mittwoch in Foxborough passierte, beschreibt die New York Times so…
„Oh, seht euch die beiden an“, sagte Chris Martin, bereit, ein weiteres süßes Lied zu singen. Dann wird es peinlich. Als Frau Cabot ihr Gesicht auf dem Bildschirm bemerkte, sprang sie sofort aus den Armen von Herrn Byron, bedeckte ihr Gesicht und drehte sich um. Er duckte sich aus dem Blickfeld. Eine Frau, die neben ihnen stand, sah man, wie sie sich ungläubig das Gesicht verzog und den Mund weit aufriss.
… und gibt dem ganzen den Titel „Coldplaygate“. Die vermeintlichen privaten Zusammenkunft eines Wirtschaftsbosses und seiner Personalchefin bei einem Konzert wurde auf eine weltweite Bühne gezerrt. Darin stecken merkwürdige Entwicklungen in Bezug auf Privatsphäse und Gesichtserkennung (siehe Punkt 5). Dahinter steckt aber vor allem eine Frage:
Wie konnte das passieren? Fünf Aspekte einer Antwort zum Meme der Stunde:
1. Memes basieren auf einfachen Rollen-Mustern
Eines der bekanntesten Memes der Welt wurde schon im Jahr 1922 im Stummfilm Pay Day von Charlie Chaplin genutzt: das „distracted boyfriend“-Meme, das einen Mann zeigt, der sich beim Spazieren mit einer Frau nach einer anderen Frau umdreht. Dass dieses Meme eine Referenz auf dem Jahr 1922 hat, ist nur so lange überraschend, wie man vergisst, dass „distracted boyfriend“ auf einem Stockfoto basiert – also auf einem inszenierten Bild, das eine für viele anschlussfähige Szene zeigen soll. Anschlussfähigkeit entsteht über klare, leicht nachvollziehbare Rollenmuster. Der Mann zwischen zwei Frauen ist genau so ein Muster. Ein Paar, das auf einem Konzert kuschelt, obwohl Zuhause ein Ehemann oder eine Ehefrau warten, ist ebenfalls genau so ein Muster. Deshalb funktioniert das Coldplay-Kisscam-Meme so gut: es bedient sehr einfache Rollen-Muster.
2. Moral befeuert jedes Meme
Neben der klaren Zuordnung wirkt die moralische Bewertung der Rollen wie ein Brandbeschleuniger für das aktuelle Meme. Es ist nicht nur klar erkennbar, wer auf welcher Seite steht – durch die Rolle des betrügenden Paars wird auch eine klare moralische Ebene ergänzt. Jedes neue Bild schreit die Frage heraus: Wie stehst du zu dieser Situation? Auf wessen Seite stehst du? Diese klare Zuordnung von gut und böse macht das Meme so reizvoll – weil es einen Kommentier-Reflex auslöst, der dem Algorithmus gefällt und weil es damit auch über klassische Meme-Medien hinaus für netzferne Medien attraktiv ist.
3. Das könntest du sein
Memes leben davon, dass sie eine Situation zeigen, die auf andere Kontexte übertragen werden kann. Beim distracted boyfriend-Meme werden die drei Akteur:innen beschriftet und das Bild bekommt dadurch eine neue Bedeutung. Dieses Prinzip funktioniert natürlich auch beim Kisscam-Bild hervorragend, aber bevor das Paar durch bekannte Marken oder Politiker:innen ersetzt wird, wird das Bild in einen sehr viel privateren Kontext übertragen: in dein eigenes Leben. Das Bild verlangt nicht nur eine politisch-moralische Positionierung (siehe 2.), es dient vor allem als Projektionsfläche für deine eigene Art, eine Beziehung zu führen.
4. Momentum ist die Aura des Memes
Diese drei ersten Aspekte werden um einen zeitlichen Aspekt ergänzt, den man Momentum nennen könnte. Ich habe diese besondere, fast magische Zutat für den Erfolg von Memes mal als „Sekunden-Aura“ beschrieben – und zwar bewusst im Sinne von Walter Benjamin; weil die Aura eines Memes nicht aus dem Original erwächst (wie Benjamin es für das Original-Kunstwerk beschrieben hat). Die memetische Aura entwickelt sich aus dem richtigen Moment. Genau dieses Wochenende ist das Kisscam-Meme populär und wird in unzähligen Varianten weiter gedreht. Marken steigen ein, drehen ihre Werbung in Richtung des Memes, es gibt Adaptionen und Weiterdrehs. Scheinbar jeder postet zu dem Thema. Aber schon nächste Woche wirkt es alt und abgenutzt.
5. Memes aus der Meta-Perspektive (sic!)
Das Prinzip von Instant-Memes (erinnerst du dich an die CDU/CSU-Männer?) basiert auf einer enormen Beschleunigung. Der Entstehungsmoment des Original-Bilds und die Geburt seiner memetischen Nutzung sind kaum mehr zu unterscheiden. So entsteht eine Biografie eines Memes – an dessen Ende übrigens häufig ein Meta-Kommentar wie diese Liste steht. Jemand tritt einen Schritt zurück und betrachtet das Meme und seine Verbreitung mit etwas Abstand. Wer diese Perspektive im Fall des Kisscam-Memes einnehmen möchte, ist hier nicht ganz falsch – und sollte in Richtung von 404media schauen, die sehr zurecht die Frage aufwerfen, was das Meme über unseren Umgang mit privaten Bildern in der Öffenltichkeit verrät.
Mehr über Memes im Blog und im Buch:
- Das Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation„
- Das politische Potenzial von Memes – ein Interview
- Die Sekunden-Aura von Memes
- Memes als Teil deiner Unternehmenskultur
- Besonderheiten des memetischen Schreibens
- Digitale Textpraxis und Radikalisierung – ein Meme-Vortrag
- Die Ablaufpyramide als Beispiel für memetische Öffentlichkeiten