Kulturelle Atomkraft

Nicht zuletzt das Remix-Phänomen weist auf den instabilen Zustand hin, in dem sich die ganze Entwicklung derzeit befindet. Remixt werden Fragmente. Filmstücke, Soundschnipsel, Splitter anderer Kulturobjekte, die zu neuen Formen zusammengesetzt werden. Musik, Texte, Bilder, Filme, aber auch modulare Software oder enzyklopädisches Wissen befinden sich in der digitalen Welt in einem Zustand latenter Zerlegung. Die althergebrachten kulturellen Molekülverbindungen – die komplexen Formen, die sie über Jahrhunderte angenommen haben – werden nun aufgeknackt, oder sie zerfallen von ganz alleine wieder in ihre Grundbestandteile. Der Übergang in das digitale Aggregat führt erst einmal zu einer Art Ursuppe aus Bruchstücken und atomisiertem Kulturgut, das allerdings hoch reaktionsbereit ist. Es ähnelt den freien Radikalen in der Chemie, die sich auf aggressive Weise zu verbinden suchen.

Peter Glaser schreibt in der Berliner Zeitung unter dem Titel Kulturelle Atomkraft von „der größten und komplexesten chemischen Reaktion der Kulturgeschichte“, die auch vor den Zeitungen nicht halt machen wird:

Auch die klassische Struktur der Zeitung korrodiert im Netz – und die neuen Strukturen sind noch nicht so recht gefunden. Ähnlich wie in dem tatsächlich vom Untergang bedrohten Quelle-Katalog ruht in einer gedruckten Zeitung die Welt auf dem soliden Fundament einer feststehenden Ordnung – Titelseite, Meldungen über und unter dem Knick, Aktuelles, Politik, Wirtschaft, Feuilleton, Sport, Vermischtes (im Quelle-Katalog beginnt die Welt bei der Damenoberbekleidung und führt über Kinder- und Herrenklamotten ins Reich der Dinge, um am Ende mit den Elektrogeräten die Welt rund zu machen). Und wie die Musikindustrie das Album zu retten versucht, versuchen auch die Zeitungen – und natürlich auch digitale TV-Nachrichtenangebote usw. -, im Netz die alte Weltordnung fortzuschreiben.