Du sahst aus wie ich und du sahst mich an
Das ist die Geschichte, wie ich mir selbst entkam
So lautet der Refrain des Songs „Wie ich mir selbst entkam“ von Tocotronic. Er ist so wunderbar offen getextet, dass ich ihn als Referenz auf meinen Umgang mit KI anhöre. Das ist nicht nur inhaltlich stimmig, es passt auch zu der These, die ich in unserem KI-Buch in Bezug auf ästhetische Intelligenz formuliert habe (Screenshot des Kapitels): „Es gibt nur cool und uncool und wie man sich fühlt„.
„Ich will in den Worten Weisheit erkennen, deshalb erkenne ich sie dort auch. Denn allein die Feststellung »Es gibt nur cool und uncool und wie man sich fühlt«, würde noch keinen Beitrag über den Aspekt der ästhetischen Intelligenz rechtfertigen. Durch die Referenz auf den Song Ich mag dich einfach nicht mehr so aus dem Jahr 1995 wird aus einer scheinbaren Behauptung aber eine Erkenntnis.“
Und genau das gleiche gilt für den Song „Wie ich mir selbst entkam“, der eine musikalische Metapher auf das Verhältnis ist, das ich als kreativer Mensch zu den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Maschinen habe. Die Gefühle, die ich beim Blick in den schmeichelnden Spiegel habe, habe ich hier schon notiert – in dem Tocotronic-Song werden sie aber erstaunlich gut auf den Punkt gebracht.
Deshalb hier mein Liedtext-Analyse (im Rahmen der Next-Level-Teaching.Konferenz habe ich diese Analyse schonmal auf einer Bühne formuliert, siehe Bilder oben)
Tocotronic: Wie ich mir selbst entkam
Sich selbst zu entkommen, kann als mindestens doppeldeutig gelesen werden: Es kann den Verlust der eigenen Person beschreiben oder das Übersteigen der eigenen Begrenzungen und des eigenen Egos. Der Text, der von der Ortsbeschreibung „Asyl für Tagediebe“ gerahmt wird, beschreibt eine Reise mit Höhepunkt in der Mitte und Rückkehr zum Ort, der am Anfang so beschrieben wird…
Zwei Straßenecken weiter fand ich einen Ort
„Asyl für Tagediebe“ nannte man diesen Ort
Die Liebe dieser Erde und die Veränderung
Trafen sich in seinem Zentrum
… die Ortsbeschreibung lese ich als Treffpunkt von Kunst, Kultur und Kreativität. Dieser Ort wird in Zeiten von maschineller Kreativität nicht mehr gebraucht. Menschen, die Umwege in Kauf nehmen, treffen sich hier. Das Asyl für Tagediebe wird als Zentrum der Liebe, aber auch der Veränderung beschrieben. Genau um diese Veränderung geht es im Folgenden. Im Refrain heißt es
Du sahst aus wie ich und du sahst mich an
Das ist die Geschichte, wie ich mir selbst entkam
Die Metapher der Erkennens eines Gegenübers wird im Folgenden wiederholt genutzt. Es geht um eine anderen Person, die aber auch das erzählende Ich selbst sein könnte (siehe dazu: Das bin ja ich).
Da warst du mein Gegenüber, die Haare im Gesicht
Und deinе Worte brachten mich aus dem Glеichgewicht
Bin ich seit Jahren oder Tagen oder Stunden hier?
Das spielt, genau genommen, keine Rolle mehr
Im Erkennen des Gegenübers entsteht Ungleichgewicht. Das Gegenüber produziert Worte, die so verwirrend sind, dass Jahre oder Tage oder Stunden keine Rolle mehr spielen. Mit Blick auf KI als verwirrendes Gegenüber kann man interpretieren: Durch das Aufkommen der maschinellen Kreativität und Kultur-Produktion verliert die Erfahrung, ausgedrückt in den Jahren oder Tagen oder Stunden, also jene Zeit, die ich bereits im Asyl für Tagediebe verweile, fortan keine Rolle mehr spielen. Sie trifft alle gleich, was mindestens eine gewisse Verlegenheit zur Folge hat:
Wir saßen mit gekreuzten Beinen vor Verlegenheit
Dann sagtest du: „Komm mit mir mit in eine Möglichkeit“
Du griffst nach meiner Hüfte und schobst dich vor mir her
„Du hast seit heute Abend kein Zuhause mehr„
Die paradoxe Erfahrung von Heimatlosigkeit einerseits und neuen Optionen andererseits wird in dieser Strophe deutlich. Die Möglichkeit wird als Raum beschrieben, in den das erzählende Ich aber nicht ganz freiwillig tritt, sondern nahezu körperlich gedrängt wird.
Ich sah dich durch die Wände gehen, zu denen ich noch rückwärts stand
Durch eine Lücke deiner Zähne lachtest du mich an
Ist je schöner über das Gefühl gesungen worden, mit dem Rücken an der Wand zu stehen – und dabei etwas oder jemanden zu beobachten, das oder der die Grenzen überwindet, die du selbst spürst? Die Metaphorik kann auf die durch das erzählende Ich symoblisierte Künstler:in bezogen werden, aber auch auf die ganze Branche, der KI durch eine Zahnlücke entgegen lacht.
An diesem Tag zerbarst die Zeit, ein greller Blitz auf Zelluloid
Und obwohl ich ängstlich war, trat ich näher und ich sah
Eine entfernte Illusion, einen Bruch der Konvention
Eine große Chaosmose und Planetenkollision
Der Eskalationspunkt des Liedes und der Reise, auf die das erzählende Ich gezwungen wurde. Der Text beschreibt dabei einen grellen Regelbruch, der Zeit und Konventionen übersteigt – aber vielleicht auch Illusion ist. Er leiht sich dafür das schöne Kofferwort Chaosmose, das die Begriffe Chaos und Osmose verbindet, aber vor allem der Titel des letzten Buchs von Félix Guattari ist. Dieses beschäftgt sich mit der Frage, wie Neues entsteht – und beschreibt dabei laut Klappentext den folgenden Moment: „Die Axiome des Bestehenden treten hier ebenso außer Kraft wie manchmal im künstlerischen Schaffen. In beiden Fällen sind Veränderungen möglich, die nicht wieder – etwa durch neurotische Vermeidungsstrategien – in die alte Ordnung integriert werden.“
Eine andere Version meiner eigenen Person
Die totale Katastrophe, eine Halluzination
Der Text wiederholt auf seinem Gipfelpunkt den Blick in den Spiegel und die Versionierung der eigenen Person. Wobei mich hier vor allem die Frage umtreibt, ob in der letzten Zeile ein Komma oder ein Doppelpunkt zwischen der „totalen Katastrophe“ und der „Halluzination“ getextet ist. In der Variante eines Kommas gipfelt die Geschichte in einer Aufzählung, die die Möglichkeit offenläst, dass alles eine Halluzination gewesen sein könnte.
Liest man hier jedoch einen Doppelpunkt, dann ist die Halluzination selbst die Katastrophe. Genau diese Bewertung wird häufig von Nutzer:innen von KI benutzt: wenn ein Sprachmodell Antworten liefert, die es eigentlich nicht, sprechen sie von Halluzinationen.
Du sahst aus wie ich und du sahst mich an
Das ist die Geschichte, wie ich mir selbst entkam
Und ich hielt mich fest an deinem ausgestreckten Arm
Sich am ausgestreckten Arm festzuhalten, beschreibt sehr gut, wie sich das Verhältnis zwischen Kreativität und Technologie gerade anfühlt. Der ausgestreckte Arm der KI hält Distanz, aber er bietet dennoch eine Form von Halt. Mit diesem Gefühl der Ambiguität kehr das erzählende Ich zurück an den Ort, an dem sich die Liebe dieser Erde und die Veränderung treffen:
Zwei Straßenecken weiter fand ich einen Ort
„Asyl für Tagediebe“ nannte man diesen Ort
Mit diesem Outro möchte ich abschließend noch auf den Aspekt verweisen, dass KI zwar Ergebnisse, aber nicht Erlebnisse produzieren kann: das spezifisch Menschliche findet sich deshalb auch weniger in den Produkten (die KI auch erzeugen kann), sondern vielmehr in den Prozessen, die nur der Mensch durchleben kann. Genau darin sehe ich den positiven Aspekt der Tagediebe, die Aufmerksamkeit auf ihre Aufmerksamkeit richten – und diese wertschätzen können.
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