Planet of the bass, Rich Men North of Richmond, Sportjournalismus, Foodvideos, Angela Merkel rappt, Talking Fruits (Netzkulturcharts August 2023)


Was geht online? Die Netzkulturcharts sind meine völlig subjektive Antwort auf diese Frage. Ich liste darin Phänomeme auf, die ich inspirierend, interessant oder bemerkenswert finde. Sie sind regelmäßiger Bestandteil meines Digitale Notizen-Newsletters.

Der Begriff „Netzkultur“ ist dabei bewusst offen und der zeitliche Bezug kann schlicht daran liegen, dass mir dieses Phänomen erst in dem Monat aufgefallen ist. Die Charts aus den Vormonaten stehen hier.

Mehr Netzkultur gibt es auch in dem Instagram-Account @kommemetare


Platz 1: DJ Crazy Times & Ms. Biljana Electronica: „Planet of the bass“

„Every European Dance Song in the 1990s“ steht direkt zu Beginn des Tiktok-Clips, der Ende Juli veröffentlicht wurde und den Vox wenig später als „die neue Internet-Hymne“ betiteln wird. Es handelt sich um den Song „Planet of the bass“, den der Comedian Kyle Gordon unter seinem Pseudonym DJ Crazy Times gemeinsam mit „Ms. Biljana Electronica“ veröffentlicht hat. Und diese Vorab-Warnung ist in der Tat wahr: den beiden ist eine hervorrangende Parodie auf die zum Teil wild getexteten Eurotrash-Nummern der Neunziger Jahre geglückt. Das finden alle lustig, die solche Songs miterleben durften mussten – und alle anderen Menschen bleiben verstört zurück, wie man in Ausschnitten eines Konzerts der Jonasbrothers sehen konnte, bei dem DJ Crazy Times und Ms. Biljana Electronica ihren Song aufführen durften.

In jedem Fall ist es wichtig die Lyrics von Planet of the bass festzuhalten, zumindest den Refrain:

All of the dream
How does it mean?
When the rhythm is glad
There is nothing to be sad
Danger and Dance
Clapping the hands
When we out in the space
On the planet of the bass

Planet of the bass

Wer auch den weiteren Text genießen möchte: Er läuft im Video automatisch unten mit

Platz 2: Oliver Anthony „Rich Men North of Richmond“

Das gab es noch nie in den US-amerikanischen Billboard-Charts: ein Künstler steigt mit einem Song auf Platz 1 in die Hitparade ein – ohne jemals vorher einen Song in den Charts gehabt zu haben. Oliver Anthony hat genau diese virale Sensation in diesem Monat geschafft. Sein Song „Rich Men North of Richmond“ steht auf Platz 1 der amerikanischen Hitparade und liefert der politischen Rechten eine Art Soundtrack ihrer Agenda. Sein viraler Erfolg basiert jedenfalls zu großen Teil auch auf dem Support aus dem rechten politischen Spektrum. Im Guardian analysiert Matthew Cantor : „Dennoch haben diese Politiker und Provokateure dazu beigetragen, dass Anthony in Rekordzeit vom obskuren Singer-Songwriter zum Liebling der Rechten aufgestiegen ist – was die Frage aufwirft, wie authentisch sein viraler Aufstieg war.“ Und der britische Singersongwirter Billy Bragg hat einen Antwort-Song geschrieben, in dem er Oliver Anthonys Kampf gegen die Eliten in die Forderung überführt: Tritt in eine Gewerkschaft ein!

Platz 3: Sportjournalismus auf Tiktok

Hey I’m Jackie and I’m here to bring you all the womens sports news – in the context of the bigger picture and the gay picture“ mit diesen Worten beginnt Jackie J alias @jcubedhax ihren aktuellen Clip über die Tennisspielerin Darja Kassatkina auf Tiktok. Während der Frauen-Fußball-WM in Neuseeland und Australien gewann Jackie zahlreiche neue Follower:innen für ihre besondere Form der Sportberichterstattung auf Tiktok. Jackie berichtete über die merkwürdigen Vorgänge im spanischen Fußballverband bevor sie durch den sexuellen Übergriff des Präsidenten Thema in der Weltpresse wurden – und zeigt mit ihren Beiträgen wie Sportjournalismus sich durch Tiktok verändern kann.

Platz 4: Foodvideos

Priya Krishna ist Food-Journalistin bei der New York Times. Wie Journalismus vor den Augen einer Tiktok-Öffentlichkeit verändert, zeigt nicht nur Platz 3, ich habe hier bereits am Beispiel des Musikjournalismus in den Netzkulturcharts bzw. am Feuilleton in Gänze beschrieben. Priya zeigt in diesem beeindruckenden Clip wie sich Food-Videos verändert haben – und hält drei dominante Trends des Tiktok-Zeitalters fest: Der Turbocharge MC-Clip zeichnet sich durch hektische Schnitte aus: Koch oder Köchin sind frontal zu sehen, sprechen in die Kamera. Der Gentle-Storyteller hingegen hält die Aufmerksamkeit seines Publikums durch die Geschichte, die erzählt wird. Diese muss nicht zwingend mit dem Gericht zusammenhängen, das im Bild gezeigt wird. Der Mad-Scientist setzt dagegen auf vermeintlich wissenschaftliche Aufregung und macht z.B. eine heiße Schokolade mit Hotdog-Wassser. Gemeinsam ist allen Ansätzen, dass sie nicht mehr wie früher Kochen lehren, sondern Alltagstätigkeiten verbessern oder mit Hintergründen erzählen.

Platz 5: Merkel singt (KI-Kunst)

Was mit KI alles möglich ist!

Diesen Ausdruck von Erstaunen bedient der Account artificial_dreammachine seit einer Weile mit beachtenswerten Videos auf Tiktok: u.a. mit einer rappenden Ex-Kanzlerin: Merkel singt (hier z.B. als Money Boy)


🎵 Ungebetene Ohrwürmer* des Monats 🎵

  1. DJ Crazy Times & Ms. Biljana Electronica „Planet of the bass“
  2. Jain: „Makeba
  3. Otto, Ski Aggu, Joost „Friesenjunge
  4. Richy Mitch & The Coal Miners: „Evergreen“
  5. David Kuschner „Daylight“

* in dem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ nutze ich Ohrwürmer als Metapher um die Wirkung von Memes zu beschreiben. Deshalb ist es nur konsequent, sie nicht nur metaphorisch, sondern eins-zu-eins zu nehmen.


Besondere Erwähnung

Wie macht man Journalismus auf Tiktok? Die aktuelle Klasse der Deutschen Journalistenschule hat einen kurzen Tiktok-Clip über die Formatentwicklung für das Projekt „Talking Fruits“ für arte veröffentlicht. Er zeigt nicht nur im Stil, wie hochformatiger Journalimus funktioniert, sondern erklärt auch wo dieser stets beginnt: bei einem User-Bedürfnis.

Auch Armin Wolf nutzt Tiktok – sehr intensiv, aber nicht wirklich gerne.

Loua hat eine Adaption des Ärzte-Songs „Junge“ geschaffen: Mädchen

Dass der Zauber vieler viraler Phänomene auf dem Kontextbruch basiert, ruft der Tiktok-Account @uce_gang6 mit der schönen Rubrik „When the music Video doesn’t match“ in Erinnerung. Der Trick dabei: Stil und Gestus des Bildes passen nicht zum Sound. Hier zum Beispiel: Harte Jungs mit Taylor Swifts „Love Song“ (Fans dieser Seite wissen, dass es dazu auch eine schöne Netzkultur-Geschichte gibt).

Letzten Monat ging es hier um den Trend zum NPC-Streaming auf Tiktok. Neu ist jetzt der Silent Live-Trend auf der Plattform


Mehr zum Thema Netzkultur gibt es in dem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ und im monatlichen Newsletter ,Digitale Notizen‘. Im Account @komMEMEtare poste ich zudem auf Instagram aktuelle Memes und Hintergründe