Gegenwärtige Kultur ist Netzkultur. Leider wird sie selten dokumentiert. Deshalb gibt es die Netzkulturcharts, in denen ich einmal im Monat festhalte, was mir im Netz aufgefallen ist. Dabei interessiert mich vor allem die „digitale Volkskultur des Remix und Mashups“, die Felix Stalder in seinem Buch „Kultur der Digitalität“ beschreibt („Die Gemeinsamkeit mit der traditionellen Volkskultur, im Gesangsverein oder anderswo, liegt darin, dass Produktion und Rezeption, aber auch Reproduktion und Kreation weitgehend zusammenfallen.“), aber auch kurzfristige Trends, Runnings Gags und Memes finden hier Erwähnung.
Wenn du keine Folge verpassen willst, bestelle meine kostenfreien Newsletter – oder folge dem Account @komMEMEtare auf Instagram.
Platz 1: Pudding mit Gabel essen
Ende August postete der Account karlsruher-memes einen Clip auf Tiktok, in dem junge Menschen zu sehen sind, die sich treffen um gemeinsam Pudding mit Gabeln zu essen. Das Video gilt als Ursprung für einen Trend, der die Muster memetischer Verbreitung mit der Idee des Flashmobs verbindet – also dem geplanten scheinbar sponanten Treffen in der Öffentlichkeit. Denn dass man sich öffentlich verabredet und dann auch noch mit dem falschen Besteck Pudding isst, wirkt auf Außenstehende so absurd, dass es die Kraft hat, die Pudding-Essende allein durch das externe Unverständnis zu einen. Genau dieses Prinzip ist auch bei den beiden folgenden Platzierungen zu beobachten.
Je populärer der Trend jedoch wird (hier eine Übersicht über geplante Pudding-Gabel-Treffen), umso größer auch der Wunsch, Erklärungen zu liefern. So clickbaitet Watson „Was zunächst absurd klingt, könnte einen ernsten Hintergrund haben“ – und führt dann die schwierige wirtschaftliche Lage dafür an, dass junge Menschen auf derlei kostengünstige Treffen zurückgreifen müssen. Auch der österreichische Account „Die Chefredaktion“ betont die Konsumfreiheit der Pudding-Treffen als Erfolgsfaktor.
Platz 2: 6’7
Im Frühjahr erschien der Song „Dot dot“ von Skrilla, in dem es eine Referenz auf die 67ste Straße in Chicago gibt. Deshalb trägt der Song die sechs und die sieben im Titel. Doch das allein reichte nicht um die beiden Ziffern zu einem der unzugänglichsten Memes des Sommers zu machen. Erst durch die Referenz auf die Körpergröße des Basketballers LaMelo Ball in einem Tiktok-Clip und durch die Basketballer-Spielerin Paige Bueckers, die „6 7“ als Antwort in einer Pressekonferenz gab, wurde „6 7 “ zu einem Slang- bzw. Jugendwort, das für Außenstehende nur schwer zu erklären ist. People.com versucht es so: „Außerhalb der sozialen Medien wurde der Ausdruck in einem humoristischen Sinn verwendet, wobei die tatsächliche Bedeutung stark umstritten ist. Einige sagen, der Ausdruck sei ein Synonym für „so-so“, während andere einen wörtlicheren Ansatz wählen und sagen, er bedeute jemanden, der sehr groß ist.“
Platz 3: Referenzen auf Patronenhülsen
Der Mord an Charlie Kirk hatte nicht nur bedeutsame politische Folgen in diesem Monat. Der Versuch, die Botschaften zu entschlüsseln, die der mutmaßliche Attentäter auf den Patronenhülsen hinterließ, brachte auch die Frage der Netzkultur und ihrer Interpretation in die mediale Debatte. Killed by a Meme hieß der Text, auf den sich viele in der Folge bezogen – um zu erklären, wie die Kultur der Referenz und Bezugnahme in einem Ökosystem funktioniert, wo eine Aussage je nach Kontext viel ironischer gemeint sein kann, als sie im ersten Moment wirkt. Ich habe hier die fünf wichtigsten Fragen dazu zusammengefasst – und relevante Antworten verlinkt.
Platz 4: Kommentare kommentieren – mit Bildern
Einer meiner Lieblingstiktoker widmet sich diesen Monat dem Phänomen der Tiktok-Kommentare – Adam Aleksic beobachtet, dass die Möglichkeit, auf Tiktok mit Bildern zu kommentieren, ein eigenes Ökosystem mit eigenen Mustern eröffenet habe. Ich finde das spannend – allein weil es den Blick darauf lenkt, nicht nur den Hauptinhalt zu beoachten, sondern auch die Kommentare.
Dass diese nicht immer unterstützend sind, zeigt lucargn auf Instagram und Tiktok – indem er besonders abfällige Kommentare kommentiert. Er führt deren Urheber (fast ausnahmslos Männer) vor und beschimpft ihre Kommentierung – um gleichzeitig zu Support für diejenigen aufzurufen, denen die Schmähungen galten.
Platz 5: Heidis Oktoberfest-Meme
Das Instant-Meme des Monats stammt vom Oktoberfest. Bundesforschungsministerin Doro Bär hat die Vorlage gepostet: ein Foto, das sie mit ihrem Partei- und Kabinettskollegen Dobrindt im Rahmen von Heidis Oktoberfest mit Namensgeberin Heidi Klum, den Kaulitz Brüdern und Thomas Hayo zeigt.
Das Bild wurde relativ schnell adaptiert und die gezeigten Personen bestimmten zu ihren Eigenschaften passenden Fußball-Vereinen oder sozialen Netzwerken zugeordnet.
Ungebetene Ohrwürmer* des Monats
1. Skrilla: „Dot Dot (6 7 )„
2. Jess Glynn: „Hold My Hand“
3. Pink Pantheress: „Illegal“
4. Melly Mike: „Young Black & Rich“
5. Kendrick Lamar: Peeckaboo
* in dem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ nutze ich Ohrwürmer als Metapher um die Wirkung von Memes zu beschreiben. Deshalb ist es nur konsequent, sie nicht nur metaphorisch, sondern eins-zu-eins zu nehmen.
Besondere Erwähnung
Um als Musikerin oder Band Aufmerksamkeit zu bekommen, sind hochformatige Videos eine gute Möglichkeit. Weil das die anderen aber auch wissen, wird es immer schwieriger, den Algorithmus und die Zuschauer:innen zu überzeugen. Dem Kölner Musiker Frytz ist das Kunststück in diesem Monat mit einem besonderen Clip geglückt: Er hat sich von einer fahrenden Trambahn filmen lassen.
Das Video erfreut sich großer Beliebtheit – was sicher auch an den Nörgel-Kommentaren liegt, die den radfahrenden Musiker daran erinnern, einen Helm zu tragen und den Radweg zu nutzen. Dass die Idee dennoch richtig gut ist, kann man aber auch daran sehen, dass ein Clip aus Australien, die gleiche Technik nutzt: In Sydney fährt der Musiker Yes Boone auf einem Mietfahrrad neben einer Trambahn her.
Tiktok/Reels sind voll von klugen Ratschlagclips. Gerade Podcasts-Schnipsel werden häufig als Quellen der Weisheit genutzt. Im Falle einer Erkenntnis, zu der die Influencerin Sara Al Madani gelangte, ging der virale Erfolg aber in die falsche Richtung. Ihr Ratschlag: „Don’t love your job. Job your Love„, den sie im Mindvalley Podcast mitteilte, wurde zur Vorlage von zahlreichen Parodien (Don’t waste your time, time your waste) und anschließend zu einem geflügelten Wort des Web – also zu einem Meme.
Die Anime-Version der Piratenflagge ist zu einem politischen Symbol geworden. In Indonesien, Nepal und auf den Philippinen ist die Totenkopffahne aus dem japanischen Anime „One Piece“ zum Protestsymbol geworden. Der Guardian zitiert einen 23jährigen Studenten in Manila, der sagt: “Even though we have different languages and cultures, we speak the same language of oppression. We see the flag as a symbol of liberation against oppression … that we should always fight for the future we deserve.”
Das Jacobin-Magazin schreibt über die Memes von Sveamaus (siehe Netzkulturcharts November 2023) – unter dem Titel „Verachtung für Boomer ist nicht progressiv“.
Die BBC hat aufgedeckt, wie Russland mit Hilfe von gefälschten Social-Media-Posts Wahlen im Ausland beeinflussen will.
Ich muss ein Geständnis machen: ich habe in diesem Monat ein neues Lieblingsformat entdeckt! Ich mag Pannen-Videos von Robotern. Sollten die Maschinen jemals die Macht übernehmen, kriege ich deshalb vermutlich Probleme. Aber bis dahin freue ich mich an Videos wie jenem, in dem ein Roboter gegen eine Laterne läuft oder sich beim Tanzen in einem Vorhang verfängt oder beim Wettrennen einen anderen laufenden Roboter über den Haufen rennt.
Wie geht es jetzt eigentlich weiter mit Tiktok? Dave Jorgenson hat dazu ein sehr gutes Videos gepostet – und Marcus Bösch eine ganze Newsletter-Ausgabe verfasst.
Markus Beckedahl kommt zu dem Schluss: „Das ist das Beste aus Pest und Cholera: Tech-Oligarchen bekommen die Daten und Kontrolle, aus China kommen die Algorithmen.“
Instagram hat ein neues super flaches Format eingeführt: 5120 x 1080 Pixel – und eine iPad-App veröffentlicht.
Steve Buscemi hat sein „how do you do fellow kids“-Meme bei Jimmy Fallon nachgestellt. Gefällt mir!
Wenn dir die Netzkulturcharts gefallen, folge dem @komMEMEtare-Account auf Instagram, abonniere meinen Newsletter oder lies das Buch Meme – Muster digitaler Kommunikation.