In meiner Timeline taucht seit Tagen ein Video von Anika Wells auf. Die australische Labor-Politikerin sagt darin (Übersetzung von mir): „Australien wird das erste Land der Welt sein, das Social-Media-Konten für Kinder unter 16 Jahren verbietet. Mit einem Gesetz können wir die Generation Alpha davor schützen, von räuberischen Algorithmen ins Fegefeuer gezogen zu werden, das von den Männern, die die Funktion entwickelt haben, als „Verhaltenskokain“ bezeichnet wurde.“
Verhaltenskokain!? Anika Wells ist sehr überzeugt. Auf der Instagram-Seite der australischen Ministerin für Sport und Kommunikation dominieren gerade Beiträge, die sich mit diesem einen Gesetz befassen, von dem sie glaubt, dass es Kinder schützen wird. Am Mittwoch dieser Woche tritt es in Kraft.
Mit ihrer Überzeugung ist Wells nicht allein. Weltweit blicken Politiker:innen nach Australien und versuchen sich am Social-Media-Verbot zu orientieren – als Partner überforderter Eltern und strenger Beschützer der nächsten Generation. Die Zustimmungswerte für ein Social-Media-Verbot für Kinder und Jugendliche sind auch in Deutschland sehr hoch.
Ich halte die Debatte für Augenwischerei, die auf dem Rücken der nächsten Generation von den wirklichen Problemen im Umgang mit Social Media ablenkt – und den aktuell überforderten Erwachsenen eine scheinbar einfache Antwort anbietet.
Es wäre weitaus sinnvoller, der Vorgabe der Gesellschaft für Medienpädagogik (GMK) zu folgen, statt sich dem populistischen Ruf nach Verboten anzuschließen. Schon im Winter 2024 hatte die GMK es so formuliert:
Anstatt den Zugang zu blockieren, gilt es, den Fokus auf der Befähigung junger Menschen zu legen, kompetent und verantwortungsvoll mit sozialen Medien umzugehen. Ihre Nutzung ist als gesamtgesellschaftliche Erscheinung anzusehen, die von Erwachsenen ebenso geprägt wird wie von Kindern und Jugendlichen. Medienkompetenz ist daher der Schlüssel, um Risiken zu minimieren und Chancen zu maximieren. Junge Menschen müssen u. a. lernen, Informationen kritisch zu bewerten, Datenschutzaspekte zu verstehen und sich sicher und souverän in sozialen Netzwerken zu bewegen. Dies gelingt jedoch nur, wenn sie zum einen Zugang zu den Plattformen haben und zum anderen ihre Teilnahme an medienpädagogischen Projekten der schulischen und außerschulischen Medienbildung gewährleistet wird.
Ich schreibe diesen Eindruck hier aber nicht auf, um meine Meinung ins Netz zu blasen. Ich schreibe ihn für all diejenigen auf, die Sympathie für das australische Verbot haben. Ihnen möchte ich drei Gedanken-Impulse mitgeben, die mich umtreiben. Deshalb habe ich den Text überschrieben mit: Wenn du das Social-Media-Verbot für Kinder und Jugendliche magst, solltest du mal über diese Punkte nachdenken
Woher kommt die Idee?
Warum ist eigentlich ausgerechnet Australien Vorreiter im Schutz von Kindern gegen die Gefahren von Social-Media? In den Beiträgen, die sich diese Frage stellen, wird immer wieder die Ehefrau eines australischen Politikers angeführt, die Jonathan Haidts Buch gelesen und dann ihren Mann zum Handeln gedrängt habe. Was allerdings viel seltener erwähnt wird, ist, dass das Medienunternehmen News Corp von Rupert Murdoch ein starker Treiber hinter dem Social-Media-Verbot war – und dass die „Let them be kids“-Kampagne der Murdoch-Zeitungen nur wenige Tage nach der Ankündigung von Meta startete, FB-News in Australien zu beenden. Konkret: Kurz nachdem Meta australischen Publishern kein Geld mehr zahlte, starteten diese eine Kampagne zum Schutz von Kindern gegen Social-Media-Plattformen.
Auf reddit habe ich diesen Kommentar gelesen: „Für diejenigen, die keine Australier sind, hier die eigentliche Geschichte: Die Murdoch-Presse ist verärgert, dass die Jugend die traditionellen Medien nicht anrührt, und die beiden großen Parteien haben null Kontrolle über die sozialen Medien und null Verbindung zu den Jugendlichen, also wollen sie versuchen, die Jugend per Gesetz dazu zu bringen, sich nur mit den Medien ihrer Wahl zu beschäftigen. Das ist die Geschichte. Alles andere ist ein Ablenkungsmanöver. Soziale Medien und Essstörungen sind ihnen völlig egal, sonst hätten sie sich schon vor 30 Jahren mit Magazinen befasst.“
Die Seite crikey zeichnet chronologisch nach, wie die Murdoch Zeitungen wenige Tage nach Metas Entscheidung ihr Interesse an einem Social-Media-Verbot entdeckten. Das mag Zufall sein und muss ja nicht heißen, dass die Forderung falsch wird. Es erklärt aber vielleicht, warum ausgerechnet Australien zum Vorreiter beim Thema Social-Media-Verbot wurde.
Wie soll das Verbot umgesetzt werden?
Auch in anderen Ländern ist die Forderung populär, Menschen unter 16 den Zugang zu Social-Media-Plattformen zu untersagen. Politiker:innen schauen auch deshalb nach Australien, weil die Frage, wie das Verbot konkret umgesetzt werden soll, bisher nicht gelöst ist. So populär die Forderung, so unklar ist ihre Umsetzung. EDRi, der europäische Verband für digitale Freiheitsrechte (European Digital Rights) kommt in einer Studie aus dem Jahr 2023 zu dem „Ergebnis, dass (…) die Altersüberprüfung die Rechte auf Privatsphäre, Datenschutz und freie Meinungsäußerung von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen gefährdet. Dies kann demokratische Freiheiten aushöhlen, die auf Anonymität im Internet angewiesen sind (z. B. Journalismus), die Autonomie der Kinder verletzen, und Eltern und Erziehungsberechtigte entmachten.“
Bei Netzpolitik gibt es eine gute Übersicht zu der Frage, wie Altersprüfung realisiert werden kann – und zu welchem Preis. Ergebnis: die einfache Antwort wird es nicht geben. Denn der nachhaltigste Schutz wäre eine Stärkung der Medienkompetenz (nicht nur) junger Menschen und die konsequente Vorbild-Arbeit der Eltern(-Generation):
Wenn Eltern nicht auf technologische Hilfsmittel verzichten möchten, können sie Jugendschutz-Software auch direkt auf den Geräten ihrer Kinder installieren. Dieser Ansatz ist deutlich weniger invasiv, als pauschal Abermillionen Erwachsene Internet-Nutzer*innen zu kontrollieren.
Was ist eigentlich mit Menschen über 16?
Die wichtigste Frage, die sich aus der Behauptung ergibt, Social-Media sei Verhaltenskokain, lautet aber: Was ist mit der Gesellschaft?
Ich halte die Drogen-Metapher für wenig hilfreich, aber wenn ich ihr folge, bin ich durchaus überrascht, dass Menschen offenbar ernsthaft denken, das Problem sei gelöst, wenn man Kindern und Jugendlichen bis zum 16 Lebensjahr den Kontakt untersagt. Ganz so als sei mit dem Erreichen des 17. Lebensjahrs plötzlich ein Kompetenzsprung zu erwarten, der alle Menschen befähigt, etwas zu können, was ihnen vorher strikt verboten und nicht positiv vorgelebt wurde.
Wer ein Social-Media-Verbot befürwortet, sollte bitte auch sagen, was dann ab dem 17. Geburtstag passieren – und wie das Problem für den weitaus größeren Teil der Gesellschaft gelöst werden soll. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Debatte von einem überdimensionierten Third-Person-Effect dominiert wird: von der verzerrten Wahrnehmung also, dass Social-Media zwar Kinder und Jugendliche negativ beeinflusst, aber keinesfalls die Generation derjenigen, die ihren Enkeln und Kindern gerade so ein schlechtes Vorbild sind.
So bequem es auch sein mag, einfach auf andere – jüngere – Menschen zu zeigen und diese zu massregeln: ein gesunder Umgang mit Social-Media braucht Regulierung der Plattformen und ernsthafte Anstrengungen der Eltern- und Großeltern-Generationen. So wie es Klaus Hurrelmann unlängst in seinem Text in die Zeit auf den Punkt gebracht hat:
Ein Verbot hilft nicht weiter. Denn damit würden jene 70 Prozent der Jugendlichen, die die Technik souverän nutzen, von dieser Technik abgeschnitten, während die 30 Prozent mit dem problematischen Nutzungsverhalten keine Chance mehr hätten, digitale Kompetenz aufzubauen. Deshalb muss bei den Entscheidungen zu Social Media ein anderes Prinzip gelten: Nicht Jugendliche müssen drangsaliert werden, sondern die Plattformen.
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