„Es ist eine Kunst, sichtbar zu sein, ohne etwas zu verlangen“ – Interview mit dem Jongleur von der Siegessäule

Das nächste Mal wenn jemand fragt, warum ich blogge, werde ich diese Geschichte erzählen. Denn ohne das Blog wäre das hier nie passiert.

Vergangene Woche war ich in Berlin. Als ich an der Siegessäule vorbei fahre, fällt mir Felipe Valdenegro auf. Dass er so heißt, weiß ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Er jongliert aber so gut, dass ich kurz stehen bleibe. Später schreibe ich über ihn – hier im Blog.

Diese Woche meldet sich Felipe bei mir. Er hat meinen Text entdeckt, verlinkt ihn auf Instagram. Wir kommen ins Gespräch, ich schlage vor, ein kleines Chat-Interview zu machen – für mein Blog. Er macht mit – und aus der Geschichte über meine Begeisterung für Vernetzung und die Zufälle, die sich darauf ergeben, entsteht ein Gespräch über die Schönheit der Aufmerksamkeit:

Du bist der Mann, der an der Ampel jongliert. Wie bist du dazu geworden?

In Chile. Als ich 12 Jahre alt war, haben mich die Zirkuskünste fasziniert. Ich habe dann bis ungefähr 16 autodidaktisch und sehr intensiv geübt – Jonglieren mit Diabolo, Keulen, Bällen, Einrad und so weiter. Danach habe ich das intensive Training aufgegeben, weil ich sehr jung Vater wurde, anfing zu arbeiten und Betriebswirtschaft an der Universität zu studieren. Später habe ich elf Jahre lang in einer Bank am Trading Desk gearbeitet. Ich bin dann nach Berlin gezogen, nachdem ich eine Deutsche geheiratet hatte – sie war schwanger, als wir ankamen. Ich habe versucht, hier im Bereich Business oder Finanzen weiterzuarbeiten, aber ich habe keine passende Stelle gefunden. Etwa drei Jahre lang habe ich als Freelancer gearbeitet, Webseiten gebaut und mit Freunden ein Tech-Startup gegründet – aber finanzielle Stabilität habe ich nicht erreicht.

Irgendwann fand ich eine Stelle in einer Stiftung, aber das Gehalt reichte nicht, um meine Ausgaben zu decken – mit einer Tochter in Deutschland und drei weiteren Kindern in Chile. In dieser Zeit bemerkte ich, dass es in Berlin Straßenjongleur:innen gibt. Ich sprach eine davon an und fragte, wie es sei, hier auf der Straße zu jonglieren. Sie sagte mir, dass es gut funktioniert, dass man in Ruhe gelassen wird und sogar gut davon leben kann. Also begann ich – zunächst neben meinem Job – auch zu jonglieren. Das lief ziemlich gut, obwohl ich damals noch viel weniger vorbereitet war: Ich trat mit drei Bällen auf und war maximal drei bis vier Stunden am Tag an der Ampel.

Seit Juli letzten Jahres, nachdem ich meine letzte Anstellung verloren habe, mache ich das hauptberuflich. Ich gehe – wenn möglich – jeden Tag an unterschiedliche Ampeln in Berlin und jongliere zwischen acht und zehn Stunden täglich. Ich habe spezielle Kleidung für meine Performances und trete bei Sonne, Minusgraden, Regen oder Schnee auf.

Wie sind die Reaktionen von den Leuten an den Ampeln?

Ich sehe alle möglichen Reaktionen. Manche Menschen schauen gar nicht hin, andere sind so berührt, dass sie sogar Tränen in den Augen haben. Was ich zum Glück noch nie erlebt habe, ist eine negative oder aggressive Reaktion – dafür bin ich sehr dankbar. Was ich besonders liebe, sind die Reaktionen im Wandel: Menschen, die mit einem wütenden oder gestressten Gesicht ankommen und dann mit einem Lächeln weiterfahren. Oder Menschen, die zuerst gar nicht hinschauen, und dann – wenn sie den Auftritt wahrnehmen – plötzlich mitgehen und das Ganze genießen.

Mir ist dabei aber auch ganz klar: Diese Reaktion sagt nichts über mich aus. Ich erscheine plötzlich im Alltag der Menschen – vielleicht sehe ich ein gestresstes Gesicht, aber das liegt nicht an mir, sondern daran, dass jemand es eilig hat oder einen schlechten Tag hatte. Die wichtigste Lektion daraus ist für mich: Man sollte einen Menschen nie nach einer Reaktion in nur einer Minute beurteilen – und das lässt sich auch auf längere Zeitspannen übertragen. Deshalb versuche ich ganz bewusst, dass die Leidenschaft und Liebe, die ich in meine Performance stecke, nicht von den Reaktionen der Menschen abhängig ist.

Manchmal sammelst du auch Spenden ein. In einem Interview hast du aber gesagt, dass es dir darum gar nicht geht. Worum geht es dir?

Ich finanziere mein Leben und das meiner Familie mit den Spenden, die ich nach meinen Auftritten bekomme. Nach jeder Show habe ich einen Moment Zeit, um zu sehen, ob jemand mir freiwillig etwas geben möchte. Aber ich bitte nie aktiv um Geld – ich nehme nur an, was mir jemand aus freien Stücken geben will. Doch das ist nur ein Teil des Wertes, den ich durch meine Arbeit an der Ampel erhalte. Mein Alltag ähnelt dem eines Hochleistungssportlers – ich bewege mich ständig, und durch diese Bewegung habe ich unglaublich hohe Glückshormone in meinem Leben. Ich liebe die Disziplin, die ich durch die vielen Shows pro Tag entwickle und lebe.

Jonglieren bringt körperliche, mentale und soziale Vorteile: Es verbessert die Hand-Auge-Koordination, Agilität, Balance, Konzentration, Geduld, Problemlösungskompetenz und reduziert Stress. Mit jeder Show wird meine Technik präziser. Gleichzeitig entwickle ich meine Improvisation, Körperbewegung und Ausdruck weiter. Ich bin das ganze Jahr über der Sonne ausgesetzt, was mir hilft, Vitamin D zu synthetisieren. Das hat meine Verbindung zur Natur stark vertieft – und auch meine Verbindung zu meinem eigenen Körper. Was mich besonders fasziniert, ist die Soziologie und das menschliche Verhalten – und genau das habe ich jeden Tag direkt vor meinen Augen.

Als ich dich beobachtet habe, hatte ich den Eindruck dass du gar nicht aktiv nach Geld fragst. Wie kommst du an die Spenden?

Was mich fasziniert, sind die möglichen Schlussfolgerungen, die Menschen in der kurzen Zeit ziehen, in der sie mich beobachten. In deinem Fall hast du mich offenbar in einem Moment gesehen, in dem ich gerade keine Spende erhalten habe – also könnte man denken: Das Ganze bringt finanziell nichts ein. Aber genauso gut hätte es sein können, dass ich in fünf vorherigen Ampelphasen jedes Mal etwas bekommen habe – vielleicht sogar mehrmals pro Ampel. Dann könnte man durch Extrapolation zu dem Schluss kommen, dass dieser Jongleur womöglich sehr gut von dem lebt, was er tut. Ich mache das acht bis zehn Stunden am Tag. Und eines ist mir ganz klar: Je mehr Verkehr ich sehe – bei einer bestimmten durchschnittlichen “Konvertierungsrate” –, desto höher ist das potenzielle Spendenaufkommen.

Um deine Frage konkret zu beantworten: Die Spenden kommen aktiv von den Autofahrer:innen. Ich beobachte ihre Bewegungen – ob sie nach einer Münze suchen oder (wie meist) das Fenster herunterkurbeln, um mir etwas zu geben. Dann gehe ich zu ihnen hin. Außerdem bekomme ich auch Spenden von Passant:innen. Und für alle, die lieber digital unterstützen möchten, habe ich auch ein aktives PayPal-Konto.

Ich habe also ein wenig zu schnell geurteilt als ich dich beobachtet habe. Deshalb eine letzte kleine Nachfrage: Trittst du auch woanders auf?

Neben der Siegessäule bin ich auch an anderen Ampeln unterwegs – zum Beispiel an Hallesches Tor, Tempelhof, Strausberger Platz und weiteren Kreuzungen. Ich versuche dabei immer, den Überraschungseffekt bei meinem Publikum zu bewahren. Auch wenn mich mittlerweile viele Menschen kennen und mich sehr herzlich empfangen. Ein schöner Nebeneffekt der Sichtbarkeit, die meine Arbeit mit sich bringt, ist, dass ich regelmäßig Anfragen für Auftritte bei Veranstaltungen erhalte – zusätzlich zu meinen Shows an der Ampel. Ich nehme jedoch nicht jedes Angebot an, sondern nur solche, die mich vom Konzept her wirklich ansprechen, zu meiner künstlerischen Ausrichtung passen und auch finanziell Sinn ergeben.

Mit oder ohne zusätzliche Events: Die Ampel fasziniert mich. Die Kombination aus Kunst, Zeit und all den anderen Aspekten, die ich erwähnt habe, macht mich sehr glücklich darüber, dass ich meine Tätigkeit auf den Straßen Berlins ausüben darf.

Das sieht man wenn man dich beobachtet. Vermutlich hatte ich auch deshalb den Impuls, über dich zu schreiben. Sag uns zum Abschluss noch: wie hast du den Text gefunden?

Ich fand den Text sehr schön – und er enthält viel Wahrheit. Für mich ist jede Show an der Ampel nicht nur ein Auftritt, sondern auch ein Training – körperlich, mental und emotional. Es ist ein ständiger Prozess der Weiterentwicklung: meiner Technik, meines Ausdrucks, meiner Präsenz. Und zugleich ist es ein tägliches Lernen über das Leben selbst. Ich übe dabei Ausdauer, Disziplin, Geduld – Eigenschaften, die weit über das Jonglieren hinausgehen. Es ist eine Kunst, sichtbar zu sein, ohne etwas zu verlangen. Und es ist ein Geschenk, mit so vielen Menschen für einen kurzen Moment in Verbindung zu treten – auch wenn sie mich vielleicht gar nicht bewusst gewählt haben. Vielen Dank für deine Worte – sie haben mich berührt.

Das freut mich sehr. Vielen Dank. Ich meinte aber vor allem auch: Wie bist du auf den Text gestoßen?
Ein Mann auf dem Fahrrad – er heißt Clemens – ist an mir vorbeigefahren und sagte mir, dass er eine Geschichte über mich in deinem Blog gelesen hatte. Ich gab ihm meinen Instagram-Kontakt, und später hat er mir den Link zum Artikel geschickt. So bin ich auf den Text gestoßen.

Der ursprüngliche Text hier im Blog. Ein Beitrag über Felipe im RBBseine digitale Spendenbox bei Paypal.