Gäbe es doch nur jemanden in der EVP-Fraktion im Europaparlament, die oder der sich mit Sprache auskennt – es wäre uns viel Aufregung erspart geblieben in dieser Woche. Die ganze Debatte über die korrekte Bezeichnung nicht fleischhaltiger Würste oder Schnitzel lässt sich nämlich mit einem Begriff klären, der Sprach-Wissenschaftler:innen geläuftig sein sollte: Retronym!
Die Wikipedia definiert den Begriff als nachträgliche Neubenennung – um es von der neuen Variante zu unterscheiden: die Analog-Uhr, die Live-Musik oder die akustische Gitarre sind bekannte Retronyme. All diese Begriffe waren unnötig und unbekannt – bis es Digitaluhren gab, Musik aufgezeichnet werden konnte oder elektrische Gitarren erfunden wurden.
Dass Retronyme gebildet werden, ist in der Geschichte der menschlichen Sprache (übrigens auch ein Retronym seit es Programmiersprachen gibt) also weder ein Skandal, noch ein Grund für gesetzliches Eingreifen: Retronyme sind Ausdruck des Lebens. Dinge verändern sich und die Sprache folgt dieser Veränderung. Oder wie ich es an anderer Stelle formuliert habe: Kultur geht nicht unter. Sie geht weiter.
Dieser Ansicht steht aber eine sehr menschliche Selbstüberschätzung im Weg: die Annahme, selbst in den Höhepunkt der Weltgeschichte geboren worden zu sein. Chronozentrismus führt dazu, dass Menschen ihre eigene Sicht auf die Welt zum Default-Modus (wahr) erheben und jede Veränderung als Niedergang der Kultur (falsch) interpretieren. Der Bundeskanzler-Satz: „Eine Wurst ist eine Wurst. Wurst ist nicht vegan“ ist nicht nur sachlich daneben, sondern vor allem Ausdruck einer chronozentristischen Weltsicht. Er erhebt die eigene Wahrnehmung des Begriffs Wurst zum Standard für alle – und übersieht dabei, dass der Begriff schon lange in anderen Zusammenhängen Verwendung findet (Kackwurst).
Das Argument der konservativen Original-Wurst-Schützenden tarnt sich dabei mit dem Begriff der Verwechslungsgefahr und lenkt das Thema damit auf das zugrunde liegende Problem der Definitionshohheit. Es geht nicht darum, ob tatsächlich irgendwo schon mal ein fleischloses Schnitzel mit einem Schweine- oder Rinderschnitzel verwechselt wurde. Es geht um die Frage, was echt, was wahr, was richtig ist bzw. was als echt, was als wahr, was als richtig angesehen werden soll*. Diese Frage durchzieht nahezu alle gesellschaftlichen Debatten vom Dualismus Richtig – Falsch über Original – Kopie, Offline – Online oder Menschlich – Künstlich bis zu Wahr – Gelogen – stets geht es um die Abgrenzung des Sauberen, Echten, Wahren von dem, was all dies nicht ist und mit dieser Differenzierung geht sehr häufig das gute Gefühl einher, auf der richtigen Seite zu stehen bzw. für diese richtige Seite einzutreten.
In Wahrheit ist es aber nur der häufig verzweifelte Versuch, sich gegen eine Veränderung zu stemmen, die schon so weit fortgeschritten ist, dass Menschen schon Worte dafür (neu-)gefunden bzw. ihr eine Sprache gegeben haben. Egal, welche Wege die nationalen Parlamente finden werden, den Beschluss aus dem EU-Parlament zu ignorieren umzusetzen: Die Sprache wird sich so nicht einfangen lassen. Zwar wird man vorschreiben können, was auf der Verpackung steht, aber was Menschen sagen, wenn sie die Veggie-Wurst aus dem Regal nehmen, kann kein Original-Wurst-schützender Bundeskanzler der Welt bestimmen.
Wer sich die Liste der Retronyme durchliest, kommt dabei vielmehr auf eine ganz andere Idee: wenn das Thema noch länger auf der Agenda gehalten wird, kommen Menschen womöglich auf die Idee, die vermeintliche Original-Wurst als Retronym zu kennzeichnen, um sie von der fleischlosen Variante zu unterscheiden. Sie könnte dann zum Beispiel als Schlachthof-Wurst geführt werden.
*zur Debatte um die Frage nach Echtheit empfehle ich den sehr guten Text „brainrot and the order of things„, auf den sich auch Adam Aleksic in seinem Reel bezieht. Aidan Walker (sein „How to do things with Memes„-Newsletter ist sehr gut) setzt dabei das Phänomen des italian brainrot (Mehr dazu in den Netzkulturcharts) ins Verhältnis zu Michel Foucaults „Die Ordnung der Dinge“ und beleuchtet die Frage, was wir als wahr und was als falsch wahrnehmen.
Mehr zum Thema im Blog:
- Das Schlimmste hat immer Recht: Warum wir unter Chronozentrismus leiden
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