Going over that cliff

Bestimmt ist es Zufall. Aber das hier ist ein Weblog und da ist es erlaubt, diesen Zufall zu nutzen und die Lektüre zweier Texte zu protokollieren, die vordergründig keinen Bezug haben, mir aber heute aufgefallen sind.

Es geht einerseits um die Aussagen der neuen ARD-Vorsitzenden Monika Piel (hier schon notiert) und andererseits um den Epilog des Buches „I live in the future an here’s how it works“ von Nick Bilton (hier schon mal erwähnt). Bilton ist Autor bei der New York Times, Piel ist Chefin von 20.000 festangestellten Mitarbeitern, die 11 Fernseh- und 55 Hörfunk-Programme erstellen.

In ihren zahlreichen Interviews hat Monika Piel heute unter anderem mit Gabor Steingart über die Kostenlos-Kultur des Netzes gesprochen (was es mit dieser tatsächlich auf sich hat, erklärt Stefan Münker in diesem Gespräch). Darin antwortet die Frau, die wohlgemerkt die neue ARD-Vorsitzende ist, auf die Frage, ob Google eine Bedrohung sei für die gebührenfinanzierte ARD:

Natürlich. Das gilt aber nicht nur für uns, sondern für alle Qualitätsmedien.

Warum das so ist, wird nicht nachgefragt und auch nicht erklärt. Stattdessen spricht Monika Piel davon, den Geburtsfehler des Internet (nämlich kostenlose Inhalte) beseitigen zu wollen. Wieso ausgerechnet die Chefin der gebührenfinanzierten ARD Inhalte, für die nicht direkt bezahlt wird, für falsch hält, wird ebenfalls nicht nachgefragt oder erklärt, stattdessen erläutert Frau Piel, wie sie diesen Geburtsfehler rückgängig machen will:

Ich kann mir zudem mit den Verlagen eine gemeinsame Internetplattform vorstellen. Dort könnten die Verlage und die Anstalten dann ihre kostenpflichtigen Qualitätsinhalte vertreiben. Es ist vieles denkbar, wenn wir uns mit den Verlegern auf diesem Gebiet endlich zusammenschließen.

Die Frage, wieso die bereits finanzierten Anstalten kostenpflichtige Inhalte verbreiten wollen, stellten die Interviewer Frau Piel nicht.

Später las ich dann das Schlusskapitel des grandiosen Buchs I live in the future & here’s how it works von Nick Bilton. Es ist als offener Brief an „CEO, Publisher, Producer, Editor, Author, Journalist, Advertising Director, Filmmaker“ formuliert und richtet sich an „the entire business of storytelling—music, movies, television, newspapers, books, public relations, advertising, teaching„. Die zentrale Botschaft lautet: Die klassischen Konsumenten kehren nicht zurück. Gleiches gilt für die Zeiten vor der Digitalisierung.

Dieser Text – weiter unten ist er als Leseprobe eingebunden – gehört mit zu dem Besten, was ich bisher über die Digitalisierung und ihre Folgen gelesen habe. Bilton beschreibt auf den rund 260 vorhergehenden Seiten, wie die Digitalisierung unsere Vorstellung vom Storytelling verändert, weil sie Inhalte von Datenträgern löst, weil sie unkomplizierte und günstige Verbreitungswege gefunden hat. Er beschreibt, wie sich darüber die Gesellschaft vor unseren Augen verändert. Bei all dem spricht der Journalist jedoch nicht von Inhalten, sondern vom Storytelling. Er sagt, genau hier liege der Schlüssel für Verlage, Anstalten und Zeitungen, den Blick vom reinen Content-Vertrieb zu heben und auf das Storytelling zu richten:

As unsettling as it may sound, we need to accept that we are not simply selling content. We’re not selling the words on the page or the images on the screen; instead we’re selling an entire experience. The content we create and sell is just one segment of a thousand- piece jigsaw puzzle.

Natürlich ist Biltons Prognose weniger komfortabel als die Aussicht, die Welt wieder so zu gestalten wie sie vor dem vermeintlichen Geburtsfehler war. Ich glaube aber, dass sie unter anderem auch deshalb realistischer ist.

Before you panic any further, be assured that first and foremost we’re all driving off this cliff together. The entire business of storytelling—music, movies, television, newspapers, books, public relations, advertising, teaching—every business will be affected. We are all going through the same involuntary mutation. Some of us have already left solid ground, and others are heading toward the impending ledge. But one thing is for sure: We’re all going over that cliff. What happens at the bottom of the ravine is what we get to decide, and for some of the luckier ones the lessons of others will help us prepare.

Welche Lektionen können das sein? Anders als Nick Bilton lebe ich nicht in der Zukunft, deshalb kann ich auch nicht so sicher sagen, welche Schlüsse es sind. Ich bin mir aber fast sicher, dass der Kampf gegen die vermeintliche Kostenlos-Kultur nicht dazu gehört. Biltons Fazit jedenfalls lautet:

It’s time to reorganize, rethink, and get back to the business of storytelling.


Update 1: Marcel Weiss widmet sich bei Neunetz den Wirre Aussagen zum Medienwandel von der neuen ARD-Vorsitzenden und Christian Ciemalla schreibt: „Die Person, über deren Aussagen die meisten vermutlich gerade oberflächlich den Kopf schütteln, steht an der Spitze eines über 6 Milliarden Euro starken Imperiums. Eines gebührenfinanzierten Imperiums.

Update 2: Unter dem Titel Frau Piel, wir müssen reden schreibt Stefan Niggemeier einen langen aber sehr lesenswerten Brief an die ARD-Vorsitzende.

Update 3: Richard Gutjahr weist in den Kommentaren auf ein spannendes Interview mit Nick Bilton hin, dass er bereits im vergangenen Frühjahr mit ihm führte

Update 4: Stefan Niggemeier weist auf den Kommentar der ARD-Generalsekretärin Dr. Verena Wiedemann in seinem Blog. Sie schreibt: „Es wird wichtig bleiben, öffentlich wieder und wieder deutlich zu machen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk ein gesamtgesellschaftliches Anliegen ist. Denn er gehört uns allen.“

8 Kommentare

Storytelling ist ein gutes Stichwort. Ich sehe aber zwei Schwierigkeiten:
1. Die Ästhetik des journalistischen Storytelling im digitalen Raum entwickelt sich gerade, aber zu langsam, weil so etwas größere Investitionen und letztlich Horden einer neuen Form von Journalisten/Storytellern inklusive des Umbaus von Redaktionen benötigen würde. Und natürlich ist ein solches Storytellling…
2. noch keine Garantie dafür, dass Nutzer bezahlen würden (was wiederum das Zögern erklärt). Und wenn sie es tun: Skaliert das? Es gehört mehr als innovatives Storytelling dazu, eine Bindung zwischen Menschen und Marken entstehen zu lassen (wie Du weißt).

Die Tragödie ist nicht nur das, was hinter dem Begriff Content steckt, sondern auch, dass dieser „Content“ häufig immer noch als ausreichendes Bindeglied gesehen wird.

Danke für den Hinweis, Richard, das spannende Interview kannte ich gar nicht. Super!

Ich glaube, Johannes, dass der Hinweis aufs Storytelling vor allem unsere Vorstellung von Content aufbrechen sollte. Storytelling ist ein Prozess, Content geht hingegen von einem abgeschlossenen Produkt aus, das dann vertrieben werden muss.

Wenn wir aber von einem Prozess ausgehen, verändert sich die Perspektive auf das, was Medien sind. Stell dir vor, ein Text wird nicht in der (meist ja gar nicht so) stillen Redaktionskammer geschrieben und dann abgeworfen, d.h. veröffentlicht, sondern im Dialog mit den Lesern in unterschiedlichen Versionen erstellt. Vielleicht eher wie Software, bei der wir uns an Updates gewöhnt haben. Vielleicht liegt darin ein Ansatz: Nicht mehr von Content als abgeschlossenem Produkt zu sprechen, sondern von flüssigen Storys, an denen man als aktiver Rezipient teilhaben kann – und für diese Teilhabe bezahlt.

Ob das skaliert und wie man in klassischen Redaktionen dafür Mit- und Vordenker findet, ist dabei noch eine ganz andere Frage ;-)

Kommentare sind geschlossen.