Weird Internet Career: Richard Joos

Im Mai schrieb ich in meinem monatlichen Newsletter über das Konzept der „Weird Internet Career“. Den Fragenbogen, den ich mir dazu ausgedacht habe, hat Richard Joos ausgefüllt.

Antworten von Richard Joos

Was denkst du wenn du den Begriff „Weird Internet Career“ hörst?
Das – ich vermute typische – „irgendwas mit Internet“, das Leute ab den Nullerjahren begannen zu machen, womit dann irgendwann auch Geld verdient wurde, sich verschiedene Arbeitsfelder und Expertisen bildeten, die sich notwendigerweise erst massiv ausfifferenzierten und dann erst irgendwann mal auch Namen und dann irgendwann auch mehr oder weniger definierte Ausbildungs- und Berufswege kriegten. Die absolvierten dann Leute, die in der Regel zwanzig Jahre jünger sind.

Welche Rolle spielt das Internet für dein (berufliches) Leben?
Naja, ich verdien mein Geld damit. Ich mach inzwischen offiziell Onlinemarketing mit Schwerpunkt SEO, inhouse bei einem Dortmunder Verbandmittelhersteller.

Welche Aspekte deines beruflichen Werdegangs würdest du als weird beschreiben?
Einmal das „reinrutschen“. Ich studierte Soziologie und wollte um die Nullerjahre rum eine Abschlussarbeit zu diesem Internet schreiben, in dem ich mich seit ca. 1995 rumtrieb und das irgendwie was neues und anderes zu sein schien. Ich hatte eher ausversehen eine recht große Online-Selbsthilfegruppe gegründet, fand aber den gesellschaftlichen, politischeren Aspekt der Sache spannender. Also wollte ich eine Reihe olitisch motivierter Leute interviewen, die im Netz was machten. Aus den Interviews wurde wenig, aber ich war im Zuge dessen auch auf einem Warez-Board angemeldet, wo das Interviwe auch nicht so recht hinhaute, ich dann eher zufällig nebenbei mitdiskutierte, irgendwan Mod und irgendann noch Admin wurde. An sich wollte ich zu diesem Zeitpunkt in die Jugend/Sozial/Rassismusforschung und ggf. promovieren, dann flog mir das Privatleben um die Ohren und angesichts eines dringend notwendigen Ausrichtungswechsels fragte ich bei verschiedenen Connections nach, ob sie wen wie mich jobtechnisch brauchen könnten. Vierzehn Tage später machte ich Onlineredaktion und Communitymanagement vierhundert Kilometer weiter. Nochmal ein paar Jahre später interviewte mich ein gewisser dvg auf der, ich meine Wizards of OS, in Berlin zu einer Kampagenplattform gegen die Musik- und Abmahnindustrie

Das andere auch gar nicht so positiv eigentlich: es gab ne Zeit, wo dann dauernd Leute nicht das tun sollten, was sie gut konnten (in meinem Fall: schreiben/Redaktion), sondern auf einmal viel anderer Kram zu machen war und entsprechend verteilt wurde. SEO war ich durchaus auf dem Stand, aber dann Marketingkonzeption, Kampagnenplannug, whatever… man lernte ne Menge, nicht alles war „mein Ding“, aber irgendwann war der Punkt, wo ein Wechsel anstand und ich feststellte, ich kann problemlos in einer Agentur arbeiten und einen guten Job machen. Und dann gibt man irgendwann als Soziologie-Quereinsteiger irgendwelchen Marketing-Fachmenschen die Schulungen für ihre aktuellen Tätigkeits- und Wachstumsfelder.

Was sehr positiv-Weirdes indessen: ich hab mit einem schwarzen Monsterdildo auf dem Rednerpult einen Fachvortrag in einer Festhalle meiner alten Uni gehalten. Dafür, dass ich mal ernsthaft ne akademische Karriere erwogen hatte, fand ich das ein großartiges Achievement. Hintergund: ich blieb mit einem meiner Kommilitonen aus der Pädagogik in Kontakt, der in Sachen Jungenarbeit viel machte. Ich wiederum verbloggte mal eine Hackercamp-Begegnung mit einem Techie von Pornhub, schrieb gelegentlich über die Probleme beim Vermarkten von Pornkunden und bekam bei einem Strategie-Workshop eines der größeren deutschen Erotikportale auf Nachfrage einen der zahlreichen Riesendildos geschenkt, die sie in einem Regal rumliegen hatten. Zu einer Fachtagung zum Thema „Jugendliche und Pornografie“ an der Pädagogiok wurde ich über die Connection dann eingeladen, um mal die pragmatisch-marketingtechnische „Gegenperspektive“ zu den allgegenwärtigen Jugendschützern und Schlimmfindern zu vertreten. Das tat ich dann mit meinem Monsterdildo und es war eine extrem sopannende und angenehme Veranstaltung. Zwei Jahre später gabs nochmal ein ähnliches Format, und ein bisschen wissenschaftlich-karrierig wurde es zum Schluss mit einer Publikation in der Zeitschrift für Sexualforschung. Was ich mir zum Anfang meiner Studienzeiten so nun auch nicht recht hätte vorstellen können.

Würdest du all das als Karriere beschreiben?
Im Prinzip ja, klar. Man wurde besser, entwickelte sich weiter, setzte seine Schwerpunkte, Expertisen etc., stellte irgendwann fest, man war Fachmensch für die Themen x, y und so weiter. Auch im Sinne von „man ist irgendwann bei dem Job und den Aufgaben gelandet, die man gerne und gut, mit Freude und Überzeugung macht. Natürlich verdient man auch heute deutlich mehr damit als noch 2006. Karriere *nicht“ dahingehend, dass man dann in irgendwelchen rein koordinierend/leitenden Führungsetagen angekommen ist, aber da wollte ich auch nie hin. Manches ist abstrakter geworden und für manche Aufgaben, die ich gern gelegentlich selber machen würde, bin ich eigentlich zu gut bezahlt. Dahingehend, dass ich sowas trotzdem gelegentlich halt mache, weils schneller geht als delegieren… nun ja, irgendwo ist man auch angekommen, wenn man das tun kann

Wie geht es weiter? Magst du über deine Pläne sprechen?
Ich mag eigentlich da bleiben, wo ich bin. Bzw. da mich weiterentwickeln. Pläne find ich schwierig, mein Spruch ist immer, man macht so alle zwei Jahre eh einen irgendwie komplett anderen Job, selbst wenn Berufsbezeichnung, Kunde/Arbeitgeber gleich geblieben sind. Im Rahmen der ganzen KI-Kiste grade bin ich witzigerweise bei einer dort absolut nicht präsenten Technologie gelandet, die zwar schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat, aber deren Relevanz mir grade deswegen hoch schent: Knowledge Graphen und generell Wissensorganisation. Dafür, dass das Internet und ein paar seiner größeren Akteure/Plattformen (Google, Wikipedia) an sich das öffentliche Weltwissen organisieren, ist mir grade zuviel Fokus auf stochastischen Modellen.

Welchen Ratschlag gibst du Menschen, die sich für eine „Weird Internet Career“ interessieren bzw. in einer stecken?
Neugierig sein und bleiben und sich die Hände an der Technik schmutzig machen. Ich war nie ein Techie (auch wenn der Server bei Hetzner steht und ich da gelegentlich eine Shell aufmache und auch nutze) und ich weine mundgemaltem HTML keine Träne nach, aber ich kann nur dazu raten: macht was eigenes. Egal was, und da soviel selber, wie es geht. Führt nen Blog über euer Lieblingsnischenthema, macht ne Amazon-Affiliateseite für Hello-Kitty-Badelatschen, hostet eure private Mastodon-Instanz, baut nen Tor-Client auf dem Raspi und schließt nie einen Monitor oder ne Tastatur an und versucht, den täglichen Trafficdurchsatz automatisch zu visualisieren und als täglichen Post im Netzwerk der Wahl abzusetzen, ohne dass es dort Leute nervt. Messt die Reichweite. Völlig egal. irgendwas, wo man mit dem Kram rumschrauben muss, direkten Zugriff auf Logs, Fehler, Traffic, wasauch inmmer hat und sich durchwursteln muss. Man muss hinterher gar nicht irgendwas gut können, aber man lernt, mit Techies zu kommunizieren. Man lernt, qualifizierte Fehlerberichte zu liefern. Man bekommt einen Eindruck von Messgrößen, die für andere Fachbereiche interessant sind und sieht ein paar Probleme, mit denen sich andere rumschlagen. Man kann heute kein „Webmaster“ mehr werden wie anno dunnemal, selbst der „Systemadministrator“ ist heute ja eher ein recht grober Überbegriff, es gibt die „Geeks of all Trades“ zumindest jobtechnisch kaum noch. Aber man sollte mit allen Geeks im breiteren Feld kommunizieren können, kommunizieren im Sinne von „Jeweiliger Rezipient versteht jeweils das, was gemeint ist“. „Breites Grund- und tiefes Spezialwissen“ als Qualifikation ist trivial, ich würde aber behaupten, dass das a) bei den „Irgendwas mit Netz“-Geschichten sehr angenehm erwerbbar ist und das b) in unserem Bereich auch wirklich für mehr Freude sorgen kann im Sinne von Spaß am Gerät, Verständnis von dem, was man tut.

Wessen “Weird Internet Career” findest du so interessant, dass du sie für diesen Fragebogen vorschlagen willst?

Axel wär ein guter Freund, war lange Zeit Kollege und ist ein Stück weit schuld an meiner „weirden Karriere“…


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