Privates Schreiben, das niemand liest (Digitale Mai-Notizen 2)


Dieser Text ist ein Teil des in diesem Monat zweiteiligen Newsletters Digitale Notizen. Dieser Teil behandelt das private Schreiben. Der andere Teil befasst sich mit Schreiben für öffentliche Problemlösung. Beide Teile sind durch eine Collage aus diesem und jenem unsplash-Bild illustriert. Den Newsletter kann man hier kostenfrei bestellen.


Reichweite! lautet das große Versprechen einer ganzen Generation kreativer Menschen. Möglichst viel Aufmerksamkeit für eine Idee, einen Text, ein Projekt, einen Gedanken zu bekommen, ist nicht nur eine schöne Aussicht, es ist auch zu dem Narrativ zur Bestimmung von Qualität geworden. Was viele wichtig finden, kann nicht unwichtig sein – bestimmt nicht nur das Denken von Maschinen, es bestimmt auch die Art und Weise, wie wir Inhalte bewerten.

Dabei gibt es einen Aspekt am Schreiben, der gar nichts mit Reichweite zu tun hat – er ist sogar unabhängig von Sichtbarkeit. Ich habe mich an diesen Teil des privaten Schreibens erinnert, als ich diese Geschichte von Kurt Vonngut (mal wieder) las: Es geht um einen Brief, den der Schriftsteller einer Schulklasse schrieb, die ihn zu einem Besuch einlud. Die Antwort stammt aus dem Jahr 2006 und hat sich seitdem mehrfach viral verbreitet. Weil sie einen faszinierenden Zugang zu Kunst und Kreativität eröffnet, der vor lauter Reichweiten- und Sichtbarkeit-Denken manchmal versperrt ist.

Es geht um den Zauber, der durchs Nicht-Gesehen-Werden entsteht, um die Magie des Wachsens – Kurt Vonnegut spricht davon herauszufinden, was das Werden ausmacht und wie die Seele wächst. Sechs Monate nach dem der damals 84-jährige Schriftsteller der Klasse von Englisch-Lehrerin Ms. Lockwood an der Xavier High School in NYC geschrieben hatte, starb er. Seitdem wird sein Brief immer mal wieder durchs Web gereicht. Ian McKellen hat ihn sogar hörenswert vorgelesen:

Ich habe den bedeutsamen Teil auf deutsch übersetzt – um die Aufforderung noch greifbarer zu machen:

Was ich Euch im Übrigen zu sagen hätte, würde nicht lange dauern, nämlich: Übt jede Kunst, Musik, Gesang, Tanz, Schauspiel, Zeichnung, Malerei, Bildhauerei, Poesie, Belletristik, Essays, Reportage, egal wie gut oder schlecht , nicht um Geld und Ruhm zu bekommen, sondern um das Werden zu erfahren, um herauszufinden, was in dir steckt, um deine Seele wachsen zu lassen.

Ernsthaft! Ich meine, fangt jetzt an, macht Kunst und tut es für den Rest Eures Lebens. Zeichnet ein lustiges oder nettes Bild von Ms. Lockwood und gebt es ihr. Nach der Schule nach Hause tanzen und unter der Dusche singen und so weiter und so weiter. Macht ein Gesicht in euern Kartoffelpüree. Tu so, als wärst du Graf Dracula.

Hier ist eine Aufgabe für heute Abend, und ich hoffe, Ms. Lockwood wird Sie durchfallen lassen, wenn Sie es nicht tun: Schreibe ein sechszeiliges Gedicht über irgendetwas, aber gereimt. Kein faires Tennis ohne Netz. Mache es so gut wie möglich. Aber sag niemandem, was du tust. Zeige oder rezitiere es niemandem, nicht einmal deiner Freundin oder deinen Eltern oder wem auch immer, oder Ms. Lockwood. OK? Reiße es in klitzekleine Stücke und entsorge es in getrennten Müllbehältern. Du wirst feststellen, dass du für dein Gedicht bereits herrlich belohnt wurdest.

Du hast das Werden erfahren, viel mehr über das gelernt, was in dir steckt, und deine Seele wachsen lassen.

Kurt Vonnegut 2006