Was sagt das eigentlich über unsere Vorstellung von Pop aus, dass der größte Streaming-Dienst dich auf 16 schätzt, wenn du vor allem Musik hörst, die in diesem Jahr veröffentlicht wurde?
Diese Frage beschäftigt mich, seit Spotify mir gesagt hat, mein musikalisches Alter sei:
16!
Um zu verstehen, wie die Datensammler aus Schweden auf diese Einschätzung kommen, habe die Bewertung beim Spiegel nachgelesen und mir interessanten Tiktok-Analysen angschaut.
Richtig ratlos wurde ich aber erst als ich die Original-Quelle bei Spotify angeschaut habe (Bild oben links). Denn bei der Altersbestimmung greifen die schwedischen Streaming-Macher auf ein Prinzip namens “reminiscence bump” zurück („which is the tendency to feel most connected to the music from your younger years“). Rückblick ist also der Default-Modus in der Pop-Musik?
Wer vornehmlich aktuelle Musik hört, ist somit automatisch 16 (das ist die jüngst mögliche Altersangabe im Listening Age) – völlig unabhängig, ob die Musik in diesem Jahr veröffentlichte Musik von alten Männern stammt oder jungen Frauen.
Was mich dazu bringt, ein kurzes Lob auf die völlig absurde Kategorie „Listening Age“ zu singen: denn sie ist inhaltlich natürlich nahezu bedeutungslos – aber als Gesprächsanlass und Marketing-Instrument ist sie eine Gold-Idee, weil sie laut ruft: Und wo bist du? Diese Frage nach Identität, Abgleich und Positionierung treibt nahezu alle (Online-)Aktivität und schiebt also auch die Spotify-Wrapped-Werbung an (die Idee ist übrigens angeblich von einer Praktikantin).
Zurück zu meinem musikalischen Alter: Bevor ich rausfand, dass nur das Veröffentlichungs-Jahr der Musik mich jung macht (ich versuche jeden Monat fünf neue Songs zu entdecken, die in diesem Jahr veröffentlicht wurden), grübelte ich lange, wieso Spotify mich für einen Teenager hält. Und meine Antwort heißt Zahide Kayaci!
Denn seit ich im April Zah1des „Mona Lisa Motion Mashup“ hörte, fasziniert mich der „wohl bekannteste Teenager Deutschlands“ (Spiegel). Dafür gibt es mehrere Gründe – und fünf davon will ich hier auflisten. Denn an Zahide kann man wunderbar aufzeigen, warum Deutschland eine bessere Zukunft hat als viele uns glauben machen wollen.
Mit dem angemessenen Pop-Pathos habe ich meine Liste also mit der Behauptung überschrieben: Warum dieses Land mehr Zah1de braucht:
1. Tamam
Klar, kann man sich über die Frage streiten, ob wir gendern sollen oder nicht. Aber: „Sprache ist, was du draus machst“ (Simon Meier-Vieracker) und Zahide beweist dies auf die beiläufigste Art und Weise. Am schönsten zeigt das der Begriff Tamam (türkisch für „okay“, „einverstanden“), den sie mit ihrem Song „Zahide did it better“ deutschlandweit bekannt gemacht hat. Würde mich nicht wundern, wenn das Wort alsbald von Susanne Daubner als Jugendwort vorgelesen würde. Was für ein schönes Zeichen, wenn Deutschland selbstverständlich türkische Begriffe in seine Sprache integriert!
2. Was für ein Deutsch ist das?
Überhaupt: Was ist das überhaupt für ein deutsch, das sie da rappt? Das fragen auch Deutsch-Lehrer:innen. Wie der Tiktok-Lehrer HerrSchmelzer, der sich mit dieser Frage offenbar sogar in einem Song wiedererkannt hat („Lehrer fragen, was für ein deutsch ich in meinem Part schreibe“). Das ist (siehe Punkt Referenzen) eine lustige Anspielung, aber es zeigt vor allem: Sprache ist, was du draus machst. Und Zahide macht was draus.
Und das gilt natürlich nicht nur für die Sprache. Das gilt auch für das ganze Land, in dem diese Sprache gesprochen wird. Zahide ist ein erstaunliches Role Model:
3. Girlboss Zahide
Klar, rappt sie über ihren Fame, über das Geld und den Ruhm. Und klar ist das typisch für das Genre. Erfreulich neu ist aber, dass hier eine Vorbild rappt, das eine neue Form des weiblichen Selbstverständnis auf die Bühne bringt: „Zahides Girlboss-Attitüde ist on point“ urteilt die taz im neuen Zahide-deutsch und trifft es damit sehr genau. Diese Rapperin ist auf erstaunliche und neue Art und Weise ein weibliches Vorbild: „Lange Haare, 14 Jahre, miese Zahl’n, todesfame“. Das ist scheinbar für die medialen Verwertungs-Systeme so neu und anders, dass sie als Frau auftreten kann ohne ständig sexualisiert zu werden.
4. Digital first
Zahide ist, was die Regierung Merz gerne wäre: Digital first! Klar, sie ist eine Internet-Prominente, die durch ihre Tanzvideos Reichweite und dann einen Plattenvertrag bekommen hat (hat da jemand Adisson Rae gesagt?). Aber vor allem ist all ihr künstlerisches Schaffen digital gedacht – und damit meine ich nicht nur die musikalischen Mashup-Referenzen (siehe 5). Ich meine den „won this trend“-Bezug und das Einberechnen von Reaktion-Videos. Ihr Manager „Serda Abi“ hat genau verstanden, wie Widerspruch zum gegenwärtigen Marketing gehört („Ich bin der King darin, aus Hate Marketing zu machen„)
5. Generationen-Mashups
„Wie du kennst mich nicht? Lebst du in einer anderen Welt?“ rappt sie in ihrem aktuellsten Song „Labubu Freestyle“, der eine schöne Jenny From The Block-Referenz ist. Zahide ist jünger als der JLO-Song, aber ihre Refrenzen sind Angebote an alte Menschen: Sie spielt mit der Geschichte des Pop, bindet Haftbefehl genauso ein wie Cro und die Indie-Fans der Nullerjahre, die die Strokes aus dem Ruhrgebiet mögen (siehe Mona Lisa Motion). Das macht nicht nur gute Laune – es ist auch ein Angebot an alle, deren Spotify- und auch tatsächliches Alter etwas höher ist.
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