Gegenwärtige Kultur ist Netzkultur. Aber war sie vielleicht früher besser? Wie auch Memes von Nostalgie erfasst werden, ist Thema der aktuellen Ausgabe – sowie einige andere Beobachtungen aus dem November im Netz. Vor allem mit einer Würdigung des Zeitgeist-Phänomens „Hook“. Damit ich solche Dinge aufschreiben, gibt es die Netzkulturcharts: Hier notiere ich einmal im Monat, was mir im Netz aufgefallen ist. Dabei interessiert mich vor allem die „digitale Volkskultur des Remix und Mashups“, die Felix Stalder in seinem Buch „Kultur der Digitalität“ beschreibt („Die Gemeinsamkeit mit der traditionellen Volkskultur, im Gesangsverein oder anderswo, liegt darin, dass Produktion und Rezeption, aber auch Reproduktion und Kreation weitgehend zusammenfallen.“), aber auch kurzfristige Trends, Runnings Gags und Memes finden hier Erwähnung.
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Platz 1: Die Hook
Aufmerksamkeit! Die ersten Sekunden sollen deine Aufmerksamkeit fangen. Deshalb gibt es die Hook, das ist der englische Begriff für den Haken, mit dem hochformatige Kurzclips deine Aufmerksamkeit angeln. Das führt dazu, dass Videos von z.B. Fußballer-Interviews mit aus dem Kontext gerissenen Sätzen beginnen, die wenige Sekunden später im ganzen Zitat nochmal gezeigt werden. Das ist ein Zeitgeist-Phänomen, das man nur versteht, wenn man den Kampf um die ersten drei Sekunden versteht. Denn nur die Clips werden weitergeschaut, die die Aufmerksamkeit des Publikums in den ersten drei Sekunden fangen – und dann halten.
Deshalb werden immer mehr Videos auf diesen Anfang optimiert. Auf Social-Media-Beratungsseiten finden man Anleitungen für vermeintlich gute Hooks. Ich beobachtet Hooks als Zeitgeist-Phänomen – noch vor wenigen Jahren hätte niemand verstanden, warum da innerhalb von wenigen Sekunden der gleiche Satz wiederholt wird. Aber das ganze ist eine gegenwärtige Form des „schau diesen Clip unbedingt bis zum Ende“-Phänomens – und führt dazu, dass zum Beispiel dieses Interview mit der Bundesforschungsministerin Dorothee Bär mit einem merkwürdigen „nein nein nein nein“ beginnt – in der Hoffnung, dass alle wissen wollen, warum die CSU-Politikerin so heftig widerspricht (Spoiler: sie wehrt sich damit gegen den Vorwurf, Grünen-Bashing zu betreiben).
Platz 2: Dinge im Po

Wie eine Hook funktioniert, kann man diesen Monat an dem „Dinge, wir wir uns in den Po gesteckt haben“-Trend ablesen. Mit diesem absolut Hook-tauglichen Satz (auf deutsch und englisch) beginnen nämlich Kurzclips, in denen Partner, Freunde, Arbeitskolleg:innen hinters Licht geführt werden. Die Person, die sich mit dem Satz vorstellt, angelt damit die Aufmerksamkeit – und setzt dann fort „Ich nichts, aber mein xxx folgendes“. Dann Schnitt auf die zweite Person, die auf eine andere Frage antwortete, in der aber unzählige, häufige erstaunlich sperrige Gegenstände aufgezählt werden.
Das ist albern, aber deshalb auch erstaunlich lustig. Dabei könnte man es belassen – gäbe es da nicht diese australische News-Seite, die den Trend nicht nur nacherzählt, sondern auch noch einen Sex-Experten zu Risiken befragt. Die Autorin des Stücks heißt übrigens Claudia Poposki.
Platz 3: Great Meme Reset 2026
Waren Memes früher besser? Ich bin da unsicher. Die Verfechter:innen des „Great Meme Reset 2026“ sehen das anders: sie wünschen sich einen Netzkultur-Neustart zum Jahreswechsel 2026 – und damit die Memes aus dem Jahr 2016 zurück. Knowyourmeme erklärt die Idee in einem Video und auf der eigenen Website. Mehr dazu auch im wie immer empfehlenswerten Newsletter von Marcus.
Das ganze ist durchaus als Fortsetzung der Meme-Depression zu lesen, die wir im Frühjahr 2025 hier schon mal in den Netzkulturcharts besprochen haben.
Platz 4: KI-Musik

Wo ist der Song „I Run“ von Haven hin? Er war so erfolgreich in Tiktok und Instagram. Er hatte so viele Streams auf Spotify und anderen Streamingplattformen – und plötzlich ist er verschwunden. Der Grund: Da singt eine Maschine!
Die Stimme im Lied von Produzent Haven stammt offenbar von einer KI, was nicht korrekt vermerkt wurde – deshalb wurde das Lied von den Streaming-Diensten entfernt. Was wiederum für extra Aufmerksamkeit auf Tiktok und Instagram sorgte. Weil sehr viele Leute zu erklären versuchten, warum das super oder schlecht oder wie auch immer zu bewerten sei.
Platz 5: Musik-Meme-Liste
Billboard hat gesammelt – und eine Liste mit den 100 vermeintlich besten Memes mit Musikbezug veröffentlicht. Das funktioniert wie solche Listen immer funktionieren: Du bist erstaunt, was alles auf der Liste landet, empörst dich über die Platzierung (Coldplay-Couple nur auf Platz 26) und erzählst dann doch allen davon. Ich verbunden mit dem Empörung darüber, dass Rickrolling nach Meinung von Billboard nur auf Platz drei landet. Skandal!
Dazu passend übrigens: das Thema der republica 2026 lautet „Never gonna give you up“ (kein Rockrolling-Link, sondern auf die Programmseite)
Ungebetene Ohrwürmer* des Monats
1. Haven: „I Run“
2. Jess Glynn: „Hold My Hand“
3. Pink Pantheress: „Illegal“
4. Melly Mike: „Young Black & Rich“
5. Kendrick Lamar: Peeckaboo
* in dem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ nutze ich Ohrwürmer als Metapher um die Wirkung von Memes zu beschreiben. Deshalb ist es nur konsequent, sie nicht nur metaphorisch, sondern eins-zu-eins zu nehmen.
Besondere Erwähnung
Was denkt Tiktok über Osteuropa? Der Slavic Stare-Trend wird hier bei der Tagesschau eingeordnet.
KI-Videos fluten das Netz – eine Einordnung beim Faktenfuchs.
Weil ja in dieser Ausgabe von Netz-Nostalgie die Rede war, hier ein kleiner wehmütiger Moment. Nachdem Friedrich Merz sich in diesem Monat ja schon mit Brasilien angelegt hatte, wurde er nach dem Gipfel der Europäischen und der Afrikanischen Union in Angola mit den Worten zitiert: „Was man am deutschen Brot hat, merkt man immer wieder, wenn man im Ausland ist. Gestern Morgen in Luanda am Frühstücksbuffet hab’ ich gesucht – wo ist ein ordentliches Stück Brot – und keins gefunden.“
Danach flackerte auf Threads für ein paar Minuten ein Trend auf, der mich an nostalgische Twitter-Zeiten erinnerte. Wer nach „Merz in“ sucht, findet sich über Weltgewandtheit des Bundeskanzlers lustig machen.

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