Vor der Siegessäule in Berlin jongliert ein Mann. Er trägt eine kurze Hose und Hosenträger auf nacktem Oberkörper. Die Fußgänger-Ampel springt auf grün. Der Jongleur springt auf die Straße: vor die Autos, die stehen bleiben müssen weil ihre Ampel rot zeigt.
Die dicke weiße Linie, vor der die Autos halten, wird zu seiner Bühne. Er wirft drei Keulen in die Luft, die Menschen in ihren Autos schauen zu ihm. Die Keulen fliegen. Er macht das gut. Das ist nicht das erste Mal, dass er jongliert. Kurz bevor die Fußgänger-Ampel wieder auf rot springt, beendet der Mann seine Vorführung. Er stellt sich an den Rand der Straße, steht jetzt neben Autos, zwei Keulen in der linken, eine in der rechten Hand. Er verbeugt sich in Richtung der Autos. Auch das macht er nicht zum ersten Mal. Dann springt die Ampel auf grün, die Autos fahren los.
Es dauert ein paar Augenblicke. Der Verkehr fließt, der Künstler sortiert seine Requisiten, die er am Straßenrand aufgebaut hat. Die Ampel springt auf rot, er greift nach einem Diabolo, tritt wieder auf seine Bühne, vor der sich langsam Publikum sammelt.
Ich beobachte das Schauspiel ein paar Ampelphasen lang. Der Künstler bekommt keinen Lohn für seinen Auftritt. Anfangs denke ich, er versuche (vergeblich) Geld aus den Autos einzusammeln. Mit jedem neuen Auftritt stelle ich aber fest: es geht hier gar nicht darum, dass die Autofahrer:innen ein paar Euros zahlen.
Der Lohn des Jongleurs ist etwas anderes: ihre Aufmerksamkeit.
Dieses Schauspiel ist Training. Ein Training vor Publikum. Wer öffentlich auftreten will, braucht das: Training vor Publikum.
Der Jongleur vor der Siegessäule hat sein Publikum gefunden – an einem Ort, an dem sie ihm nicht entkommen können. Sie haben sich nicht bewusst entschieden, genau ihm und genau jetzt Aufmerksamkeit zu schenken. Sie können gar nicht anders. Aber dem Künstler ist das egal.
Er will offenbar gar nichts anderes als ihre Blicke. Er will das Gefühl, gesehen zu werden. Denn erst durch die Aufmerksamkeit aus den Autos wird seine Aktion zu einer Aufführung. Erst durch ihre Blicke wird seine Kunst sichtbar, öffentlich und damit mehr als eine private Übung. Die Aufmerksamkeit aus den Autos ist das Wasser im Schwimmbecken. Erst durch sie kann er schwimmen.
Womöglich ist der Jongleur an der Berliner Siegessäule eine Metapher: für unseren Umgang mit Inhalt und Aufmerksamkeit in digitalen Öffentlichkeiten.
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