Netzkultur ist durchaus auch politisch. Das zeigt die Oktober-Ausgabe der Netzkulturcharts, in denen ich einmal im Monat festhalte, was mir im Netz aufgefallen ist. Dabei interessiert mich vor allem die „digitale Volkskultur des Remix und Mashups“, die Felix Stalder in seinem Buch „Kultur der Digitalität“ beschreibt („Die Gemeinsamkeit mit der traditionellen Volkskultur, im Gesangsverein oder anderswo, liegt darin, dass Produktion und Rezeption, aber auch Reproduktion und Kreation weitgehend zusammenfallen.“), aber auch kurzfristige Trends, Runnings Gags und Memes finden hier Erwähnung.
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Platz 1: Stadt-Lingo
Nachdem Herm und Buggi seit Ende September ganz Deutschland nicht nur die vermeintlich regional besondere Jugendsprache aus Big N (Nürnberg) nahe gebracht und damit auch zahlreiche Nachahmer inspiriert hatten, durften sie im Oktober das deutschlandweite Jugendwort (Das Crazy) verkünden. Außerdem wurden die Nürnberger Botschafter unlängst auch vom Oberbürgermeister ihrer Stadt empfangen, denn sie haben nicht nur Big N und seinen vermeintlichen Jugendsprach-Dialekt bekannt gemacht. Sie haben auch das bekannteste Meme des Monats erfunden. Ihr „Wir sagen nicht …“ ist zu einem geflügelten Wort geworden – und bedient ein Phänomen, das in den Netzkulturcharts im Winter 2023 schon mal Thema war: die Regionalisierung von Memes – hier an den Beispielen BaWü, Hamburg, Hannover oder Esslingen zu sehen, die Herm und Buggi imitieren.
Für Leser:innen des Meme-Buchs natürlich keine Überraschung, denn dort wird die Wirkung von Memes wiederholt mit der Mechanik von Dialekten verglichen. Dazu übrigens die Entdeckung des Monats: der renommierte Regisseur Timo Schierhorn hat eine Verwendung für das Buch gefunden, die mir sehr gefällt.
Platz 2: Stadtbild
Soffie hat eine Cover-Version ihres Frühlings-Songs gemacht (siehe Netzkulturcharts Januar 24), der im Frühjahr des vergangenen Jahres zum Soundtrack der Anti-AfD-Proteste wurde. Der Grund für diese Neu-Interpretation: Friedrich Merz, der in der Neuauflage von Soffies Traum kein Teil vom Frühling ist, hat sich in diesem Monat zum Stadtbild geäußert. Die zahlreichen Reaktionen der Netzkultur zeigen, wie aktiv und politisch digitale Kultur sein kann. Havalisergec hat eine DJ-Version hochgeladen, die auf Platz 1 erwähnten Stadt-Accounts haben lokale Versionen von „Was das Stadtbild von xxx wirklich stört“ gepostet und die Netzkultur hat unter anderem sehr kurzfristige Demonstrationen vor der CDU-Zentrale ermöglicht.
Abseits der Netzkultur möchte ich in diesem Zusammenhang auf den offenen Brief verweisen, den fünfzig Frauen an Merz geschickt haben – und zehn Forderungen für mehr Sicherheit für Töchter in Deutschland aufstellen.
Platz 3: Sora2 und guter AI-Slop
OpenAI hat ein soziales Videonetzwerk namens Sora2 veröffentlicht. Das Angebot gibt es bisher nur in den US-Appstores, aber die Ergebnisse fluten auch außerhalb Amerikas das Netz: KI-generierte Videos, die Stephen Hawking in einer Halfpipe zeigen oder den Maler Bob Ross wie er mit seinem Kopf ein Bild malt. Alles erfunden, alles Quatsch und alles sehr sehr präsent.
Die Flut an so genanntem AI-Slop hat nicht nur eine Debatte über Medienkompetenz entfacht (hier eine kleine Erinnerung), sie hat auch eine Form von Videos erzeugt, die bei mir das Gefühl auslösen, das vor Jahrhunderten vermutlich die ersten Karikaturen von Politikern ausgelöst haben müssen: ein Lachen. Ein KI-karikierter JD Vance (siehe Netzkulturcharts Juni 2025) wird in Pleiten-Pech-und-Pannen-Videos gezeigt. Das ist totaler Unsinn, aber irgendwie doch lustig.
Platz 4: Die ManUnited-Frisur
Plattformen wie Tiktok und Instagram wollen gefüttert werden. Möglichst regelmäßig Clips zu posten, wird belohnt. Deshalb ist Frank Illet alias @TheUnitedStand im vergangenen Jahr sehr groß geworden auf Tiktok und Instagram.
Dabei basiert sein Erfolg auf dem Misserfolg seines Lieblings-Fußballclubs: Manchester United. Frank kündigte vor mehr als einem Jahr die Challenge an, so lange nicht zum Friseur zu gehen, wie sein Team keine fünf Siege in Folge schaffen würde. Seine Mannschaft spielte sehr schlecht – was jeder ans Franks Frisur sehen kann. Sie wächst und wächst. Nun ist Frank allerdings kurz davor, einen Friseur-Besuch zu bekommen. Sein Team könnte bald den fünften Sieg in Folge einfahren. Vielleicht…
Platz 5: Peak Social Media
Hat Social-Media seinen Höhepunkt überschritten? Seit die Financial Times Anfang des Monats Zahlen präsentierte, die einen Rückgang der Social-Media-Nutzung beschreiben sollen, wird darüber diskutiert. Dass die Debatte eine solche Fahrt aufgenommen hat, liegt natürlich auch an einer weit verbreiteten Unzufriedenheit mit den großen Plattformen und dem Rückzug in Gruppenchats und Dark-Social.
Welche Substanz aber tatsächlich in den Zahlen steckt, haben Simon und Martin in diesem Beitrag im Social-Media-Watchblog zusammengefasst: „Wir haben uns die Daten genauer angesehen und sind skeptisch.“
Ungebetene Ohrwürmer* des Monats
2. Großstadt-Engel: „Gute Laune“
3. Jess Glynn: „Hold My Hand“
4. Pink Pantheress: „Illegal“
5. Tyler, the Creator: Sugar on my Tongue
* in dem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ nutze ich Ohrwürmer als Metapher um die Wirkung von Memes zu beschreiben. Deshalb ist es nur konsequent, sie nicht nur metaphorisch, sondern eins-zu-eins zu nehmen.
Besondere Erwähnung
Menschen, die wie Vögel auf einem Arm sitzen? Klingt absurd, ist aber ein bemerkenswerter Trend der vergangenen Wochen. Dieses Tiktok erklärt wie er gefilmt wird.
Tiramisu in einem Fahrradkorb machen? Emre Baki macht dadaistische Videos, die unter anderem auf diesem wiederkehrenden Gag basieren. Mir ist nicht ganz klar, wie man dieses Genre bezeichnet, in dem er Dinge aus dem Fenster wirft oder einen Autoreifen in einem kleinen Zimmer gegen die Wand donnert. In jedem Fall finde ich diese Videos bemerkenswert – und möchte mindestens meine Verstörung hier festhalten.
Der Comedian Cody Dahler filmt politische Kommentare in Form von Reels/Tiktoks, in denen er vermeintlich mit politischen Akteur:innen telefoniert. Der Clip, in dem er im Telefonat mit Donald Trump diesen zu beruhigen versucht, weil er beim Friedensnobelpreis leer ausging, zählt mit zu dem besten, was ich an politischer Comedy im Hochformat in diesem Monat gesehen habe.
Nicht unerwähnt soll diese besondere Form von Mashups bleiben, die die Analogsociety-Band seit einer Weile auf Instagram einspielt – dabei werden auf bemerkenswerte Weise zwei Songs zusammengeführt. Sie nennen das Genre „Two Songs in One“ und dieses Beispiel hier ist nicht mehr ganz aktuell, aber trotzdem sehr toll.
Der in den Ohrwürmern erwähnte Gute-Laune-Song hat einen sehr schönen Gegensound befördert: der überall-schlechte-Laune-Trend macht lustigerweise allerdings wieder gute Laune.
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