„Die Art wie wir Journalismus machen hat sich verändert“

Im Rahmen des DLD sprachen am Sonntag in München der französische TV-Journalist Bruno Patino, Jeff Jarvis und Focus-Chef Ulrich Reitz (moderiert von Jochen Wegner) unter dem Titel „Post Paris Journalism“ über die Folgen des Terroranschlags auf die Redaktion von Charlie Hebdo. Die Frage, welche Schlüsse man aus den Ereignissen vom 7. Januar 2015 in Sachen Pressefreiheit oder Umgang mit Sicherheitsgesetzen ziehen muss, wird uns noch lange beschäftigen: Darüberhinaus hat das nachrichtliche Ausnahme-Situation #CharlieHebdo aber auch Erkenntnisse über die sich wandelnde Medienbranche zu Tage gefördert.

Der französischen TV-Journalist Bruno Patino hat dazu (ab ca 4.30 Min im Video) eine sehr bemerkenswerte Analyse in drei Unterpunkten geliefert, die ich hier (zusammenfassend, nicht Wort für Wort) übersetzt festhalten möchte:

1. Die Dinge, die wir mussten, deren Ausmaß wir aber noch nicht wirklich übersehen: Wir stellen fest, dass es schwierig ist mit Druckwerken wirklich viele Menschen zu erreichen. Die Probleme beim Vertrieb der ersten „Charlie Hebdo“-Printausgabe nach den Anschlägen zeigen, dass es schwierig ist, mit Print 100 Prozent der Bevölkerung zu erreichen. (…) Zum zweiten ist uns die enorme Bedeutung der sozialen Netzwerke bei der Verbreitung von Nachrichten vor Augen geführt worden. Ich habe bereits erzählt, dass François Hollande von den Anschlägen via SMS erfahren hat. Vielleicht wissen Sie, dass einige der Terroristen GoPro-Kameras bei sich hatten und ihr Attentat filmten. Das Video von den Schüssen wurde über Facebook in die ganze Welt verbreitet, bevor es bei den traditionellen Medien ankam. Uns war das alles vorher klar, aber es kam in diesem Fall mit so einer Wucht, dass uns dabei das Ausmaß der Veränderung bewusst wurde.

2. Die Dinge, die die wir bisher noch nicht wahrgenommen haben: Die Kraft der Sozialen Netzwerke als Mehrheits-Echokammer war uns vorher nicht klar. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich war in einer digitalen Redaktion als der 11. September 2001 passierte. Der Tag änderte digitalen Journalismus für immer. Ich war in einer Redaktion als die Anschläge in London und Madrid passierten und auch das veränderte den digitalen Journalismus, weil wir dabei die Beiträge, Bilder und Reaktionen der Bevölkerung beobachten und einbauen mussten. Aber in diesem Fall wurde auch die Arbeit ganz klassischer Redaktionen verändert. Es war das erste Mal, dass wir vierzig, fünfzig, sechzig Stunden Live-Berichte von den Geschehnissen im französischen Fernsehen zeigten. Und es war das erste Mal, dass ich beobachtete, wie ganz klassische Redaktionen nicht nur aufnahmen was über Twitter und Facebook kam, sondern tatsächlich auch auf das Publikum reagiert haben – im Live-Programm, nicht auf der Website oder in Apps, sondern im Live-Programm. Meiner Meinung nach war das das erste Mal, dass das Publikum so eine Rolle gespielt hat. Irgendwer hat das „augmented real time coverage“ genannt, aber es stimmt. Hier hat sich was verändert.

3. Die Fragen, die sich jetzt stellen: Eine solche Veränderung wirft Fragen der Verantwortung auf. Wir wissen, dass wir als Journalisten nicht immer alles zeigen. und dabei geht es nicht um die Zeichnungen, sondern um die Videos der Angriffe. Wir haben entschieden, dass wir die nicht zeigen wollen, aber sie sind auf Facebook. Wie zeigt man redaktionelle Verantwortung wenn man seinem Publikum Bilder nicht zeigt, die das Publikum aber schon kennt? Hier verändert sich ein journalistisches Paradigma – nicht in Bezug auf die Entscheidung, was man thematisiert, sondern auch in Bezug auf das, was man nicht thematisiert. Und die letzte Frage ergibt sich aus der Erkenntnis, dass wir nicht mehr über den Kontext bestimmen, in dem unser Inhalt (Content) wahrgenommen wird. Wir gehen in das Zeitalter des „out of Kontext“-Journalismus. Um es zusammenzufassen: ich bin mir nicht sicher, ob sich Frankreich nach den Anschlägen verändert hat. Ich bin mir aber sicher, dass sich die Art wie wir Journalismus machen verändert hat.

Hier die Diskussion in Gänze anschauen:

Mehr zum #DLD15: Im Blog von Julius Endert, bei Daniel Fiene, Gründerszene und Heise.