Du bist nicht Social-Media-abhängig!
Und du solltest auch aufhören, ständig von Social-Media-Abhängigkeit zu sprechen!
Denn diese Art von Gespräch über unsere Nutzung von Smartphones und Apps ist kontraproduktiv, wenn wir einen gesunden Umgang lernen wollen!
So lassen sich die Studien von Ian Anderson und Wendy Wood vom California Institute of Technology (Caltech) zusammenfassen. Ihr Forschungs-PDF trägt den Titel „Overestimates of social media addiction are common but costly“ – und lässt sich als Beitrag zur aktuellen Debatte um das australische Social-Media-Verbot lesen.
Ian Anderson war gerade zu Gast im empfehlenswerten Podcast von Taylor Lorenz. Die beiden sprechen über die Caltech-Befragung und die erstaunlichen Erkenntnisse: „Menschen haben sich als social-media-abhängig beschrieben und dachten sie seien es, auch wenn sie es nicht waren.“
In der Befragung hatten Anderson und Wood 380 Instagram-Nutzer:innen ihren Umgang mit der App beschreiben lassen und dann um die Bewertung ihres Verhaltens geben. Ergebnis: Es gab kaum Nutzungsverhalten, das auf die Definition von Abhängigkeit zutrifft – aber es gab eine sehr hohe Selbstbeschreibung als social-media-abhängig. (Grundlage für die Definition von Abhängigkeit sind die Kriterien der Bergen-Social-Media-Adiction-Scale: Salienz, Toleranz, Stimmungsänderung, Entzug, Konflikt, Rückfall).
Das heißt übrigens nicht, dass es in der Studie kein problematisches Nutzungsverhalten gab. Die Forscher:innen stellen jedoch fest, dass es kontraproduktiv ist, dieses als Abhängigkeit oder Sucht zu bezeichnen – weil diese falsche Selbstbeschreibung den Weg zu einem positiven Umgang mit Social-Media erschwert. Im Forschungs-PDF heißt es dazu,…
… dass die Einstufung der häufigen Nutzung von Instagram als Sucht schädliche Folgen für die Selbstwirksamkeit der Nutzer hat, einschließlich der Verringerung der wahrgenommenen Kontrolle über die Nutzung sozialer Medien und der Erhöhung der Selbstbeschuldigung für die übermäßige Nutzung. Darüber hinaus lenkt die Fehleinschätzung, dass übermäßige Nutzung sozialer Medien süchtig macht, die Nutzer:innen möglicherweise von wirksamen Strategien ab, die zur Eindämmung übermäßiger Nutzungsgewohnheiten eingesetzt werden könnten.
Weniger wissenschaftlich formuliert könnte man also sagen: Wer das Ziel hat, einen gesunden Umgang mit Social-Media selbst zu erlernen oder seinen Kindern beizubringen, sollte aufhören, die Apps und ihre Nutzung zu verteufeln – oder gar zu verbieten. Das heißt nicht, dass die Arbeit damit getan ist. Sie fängt dann erst an: Wer problematische Gewohnheiten im Umgang mit Social-Media-Apps entwickelt hat, sollte diese bemerken, brechen und durch neue ersetzen. So würde ich die Ratschläge zusammenfassen, die ich ebenfalls in dem Podcast gehört habe.
Fünf Tricks für gesunde Social-Media-Gewohnheiten:
1. Beende die Moralisierung
Die andauernde (auch medial verstärkte) moralische Abwertung der Social-Media-Nutzung ist kontraproduktiv. Wenn dein Ziel ein gesunder Umgang ist, solltest du die moralische (Selbst-)Bezichtigung beenden und nicht länger von Sucht und Abhängigkeit sprechen. Dieses Narrativ bedient nur das Gefühl, ausgeliefert zu sein und verhindert positive Selbstwirksamkeits-Erfahrungen. Dieses entstehen, wenn du die Nutzung, die du verändern möchtest, als Gewohnheit (Habit) wahrnimmst, die du auch verändern kannst.
In der Studie heißt es: „Unsere Ergebnisse liefern eindeutige kausale Belege dafür, dass ein Sucht-Framing die von den Nutzer:innen wahrgenommene Kontrolle über ihre Instagram-Nutzung negativ beeinflusst und die Wahrnehmung ihrer Fähigkeit, die Nutzung in der Vergangenheit zu kontrollieren, sowie ihre Fähigkeit, die Nutzung aktuell und in Zukunft zu kontrollieren oder zu reduzieren, beeinträchtigt. Darüber hinaus erhöhte die Sucht-Perspektive die Tendenz der Nutzer:innen, sich selbst und der Instagram-App die Schuld an der übermäßigen Nutzung zu geben. Diese Zunahme der Selbstbeschuldigung ist überraschend, wenn man bedenkt, dass die Instagram-App speziell darauf ausgelegt ist, die regelmäßige, gewohnheitsmäßige Nutzung zu fördern.“
2. Bemerke deine Gewohnheiten
Das eigene Social-Media-Verhalten als gewohnheitsbasierte Nutzung zu bemerken, ist der erste Schritt, um neue, gesündere Gewohnheiten zu entwickeln. Anderson betont, es sei ein Unterschied, ob man von Sucht oder von gewohnheitsmässigen Nutzung spricht – nicht nur aus sematischen Gründen. Denn es sei wichtig zu verstehen, „dass die Veränderung von Süchten und Gewohnheiten unterschiedliche Strategien erfordert, und eine unangemessene Verwendung dieser Begriffe nicht nur zu unwirksamen Behandlungsstrategien führt, sondern auch die Selbstwirksamkeit der Veränderung bedroht, wie wir in der aktuellen Forschung gezeigt haben.“
3. Breche deine Gewohnheiten
Wer bemerkt hat, dass die gewohnheitsmässige Nutzung von Social-Media unerwünschte Folgen hat, kann anfangen, diese Gewohnheiten zu brechen, also Trigger-Punkte zu vermeiden oder zu verschieben. In der Studie heißt es dazu: „Da Gewohnheiten durch Leistungshinweise aktivieren werden, können unerwünschte Gewohnheiten geändert werden, indem die Auslöser verschoben oder entfernt werden, wodurch ein zielgerichteteres Verhalten möglich wird. Das Entfernen von Auslösern kann so einfach sein wie das Ändern der Social-Media-Einstellungen, um Benachrichtigungen zu stoppen, das Telefon außer Sichtweite zu legen oder den Graustufenmodus zu verwenden, um gestalterische Reibung zu erzeugen.“ Der Begriff „gestalterische Reibung“ gefällt mir dabei besonders – mit ihm können unterschiedliche Praktiken beschrieben werden: Apps, die den direkten Zugriff verhindern oder besonders schwere Handy-Hüllen, die eine längere Nutzung allein körperlich erschweren, weil das Handy schwer wird.
4. Lerne neue Gewohnheiten
Um aber einen gesunden Umgang mit Social-Media zu lernen, muss man diesen vor allem erstmal definieren: Wie soll denn eine gute Social-Media-Gewohnheit aussehen? Das zu beschreiben, ist der nächste Schritt, um neue Gewohnheiten zu lernen und einzuüben. In der Studie heißt es dazu: „Unerwünschte Gewohnheiten können auch durch das Üben von Ersatzaktivitäten geändert werden, wie im klassischen Gewohnheitsumkehrtraining. Durch das Üben konkurrierender Aktivitäten, wie z. B. das Lesen eines Buches bei Langeweile oder die Nutzung alternativer Apps (z. B. zum Sprachenlernen), können Menschen neue Gewohnheiten entwickeln, die ihren aktuellen Zielen besser entsprechen.“
5. Schalte die Benachrichtungen aus
Wenn dir die ersten vier Punkte zu abstrakt sind, hier der ganz konkrete Tipp: Schalte alle Mitteilungen aus, die (nicht nur) Social-Media-Apps, dir aufs Smartphone schicken dürfen! Ich wundere mich immer wieder, wenn ich sehe, dass Nutzer:innen diese Funktion gestatten.
Ich nutze diesen ganz konkreten Startpunkt als Abschluss, weil er gut zeigt, wie sich gesunde Social-Media-Gewohnheiten beschreiben lassen:
Nicht die App bestimmt, wann du sie öffnest, sondern du!
Mehr zum Thema hier im Blog und in meinem monatlichen Newsletter
