„Die Oma ist irgendwann weg. Aber das Grundgesetz, das bleibt.“ Interview mit Oliver Wurm zum Grundgesetz als Magazin

Wie kommt man auf die Idee, das Grundgesetz ans Kiosk zu bringen? Diese Frage habe ich dem Journalisten und Mediengestalter Oliver Wurm gestellt. Im Bild rechts ist er gemeinsam mit dem Designer Andreas Volleritsch (links) zu sehen. Die beiden haben das Grundgesetz nicht nur zu einem sehr tollen Magazin gemacht, sie sind damit auch äußerst erfolgreich. Die 124 Seiten kosten 10 Euro – und ziemlich viele Menschen wollen sie kaufen. Es ist „ein Renner“ wie das Branchenmagazin Meedia schreibt – und das obwohl der Grundgesetz-Geburtstag erst im kommenden Monat ist.

Im nächsten Monat feiert unsere Verfassung 70sten Geburtstag. Wenn wir uns kurz vorstellen sie wäre ein Mensch: Wie wäre sie?
Bevor ich mich so intensiv mit den Texten des Grundgesetzes beschäftigt habe, hätte ich gesagt: Ein alter Mann, gebildet, konservativ, deutlich über 70. Heute fällt es mir schwer, ein stimmiges Bild zu finden. Sicher ist, dass der Mensch deutlich vitaler wäre als es sein Geburtsdatum vermuten läßt. Ob Frau oder Mann – schwer zu sagen. Sicher ist, dass er oder sie über eine erstaunliche Weisheit verfügt, über ein intaktes Wertesystem und über eine beeindruckende Fähigkeit: nämlich die, mit der Zeit zu gehen – ohne sich dabei zu sehr vom jeweiligen Zeitgeist treiben, geschweige denn beunruhigen zu lassen.

Und wie wäre ihr Geburtstagsfest? Welche Gäste würden kommen? Wer würde Reden halten? Was wären gute Geschenke?
Ich wünschte, es wäre eine rauschende Sommerparty in einem großen Garten – alle Tore zur Straße hin geöffnet. Es würde ein Kommen und Gehen herrschen. Mit Kindersause am Nachmittag, flying Buffet am frühen Abend, einem bunten, bissigem, kurzweiligen und überraschenden Unterhaltungsprogramm bis weit in die Nacht – und in den frühen Morgenstunden würde wild getanzt und ausgelassen geknutscht. Ich fürchte aber, es wäre eher die klassische lange Holztafel, mit geladenen Gästen, harmlosen Unterhaltungselementen und erwartbaren Gastrednern aus Wirtschaft, Kultur und Politik. Vorteil der zweiten Variante: An einem solchen Abend geht in der Regel nicht allzuviel kaputt. Nachteil der zweiten Variante: An einem solchen Abend entsteht in der Regel wenig Neues.


Für alle anderen, die in diesem Jahr 70 werden, gibt es ein perfektes Geschenk: Eure Magazinversion vom Grundgesetz. Du hast es bestimmt schon tausend Mal beantwortet, trotzdem: Wie kommt man auf so eine Idee?

Klingt etwas hochtrabend-meta, ist aber so: Die besten Ideen habe ich nie gesucht – die haben mich immer gefunden. Wenn ich mir aber eine Qualität zuschreiben darf, dann ist es diese: Ich erkenne besondere Ideen sehr schnell. Und sie lassen mich dann nicht mehr los. So war es auch hier. In wirklich aller Kürze zusammen gefasst: Im November 2017 schwärmt Rangar Yogeshwar bei „Markus Lanz“ über unsere Verfassung. Und sagt am Ende seiner Lobhudelei: „Das Grundgesetz ist die Nation. Es ist schön! Jeder sollte es mal lesen.“ Noch in der Sekunde habe ich mir eine Gratisausgabe im Netz bestellt, bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Die war wenige Tage später auch bereits im Briefkasten. Ein kleines Heftlein, dünnes Papier, winzige Schrift, keine Fotos, eine freudlose Bleiwüste. Ich hatte gar keine Lust, darin zu lesen. Habe dann aber einfach mal bei Artikel 1 eingefangen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Rumms! So klares deutsch. So ein schöner Satz. Und so geht es in den Grundrechten dann ja Schlag auf Schlag weiter. Nach wenigen Minuten wusste ich bereits: Rangar Yogeshwar hat Recht. Das müssen alle lesen! Ich entwickle seit vielen Jahren eher ungewöhnliche Print-Magazine, habe 2011 sogar mal den vollständigen Text des Neuen Testaments als Oneshot an den Kiosk gebracht. Kurzum: Der „Werkzeugkasten“, den es benötigt, um einen schwer konsumierbaren Text mit allen Mitteln der Typographie und des Designs in etwas zu verwandeln, in dem man gerne blättert, stöbert und liest – dieser Werkzeugkasten steht seit Jahren auf meinen Schreibtisch. Gemeinsam mit dem Designer Andreas Volleritsch habe ich dann mal darein gegriffen und das Ganze umgesetzt. Dem freudvollen Text eine freudvolle Verpackung verpasst. Und ich wusste schon nach wenigen Seiten: Das funktioniert!

Welche Stelle hat Dich bei der Beschäftigung mit dem Text für das Magazin am meisten überrascht?
Überrascht im Sinne von berührt hat mich tatsächlich Kapitel Xa, der „Verteidigungsfall“. Wenn da so nüchtern wie minutiös aufgelistet wird, was alles passiert und wie alles geregelt wird, sobald man feststellt, „dass das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird“ – da hatte ich beim ersten Lesen Gänsehaut. Natürlich haben sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes 1948/49, wenige Jahre nach Ende und unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs, damit intensiv beschäftigt. Und vermutlich, so weit gehe ich, hat kaum einer von ihnen zu hoffen gewagt, dass wir das dort beschlossene in den nächsten 70 Jahren nicht ein einziges mal würden nachlesen müssen. Und dass für Deutschland tatsächlich eintreffen sollte, was in der Präambel als Hoffnung formuliert ist: dass es „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt“ dient. Mir ist jedenfalls noch mal klar geworden, welches Geschenk es ist, in einer Friedens-Epoche zu leben. Und wie lohnenswert es ist, alles daran zu setzen, dass dies so bleibt.

Ist das auch deine Lieblingsstelle aus dem Grundgesetz? Bzw.: Welches ist Deine Lieblingsstelle?
Ich könnte jetzt als Journalist Artikel 5 und die Freiheit der Presse nennen. Und – mit Blick auf das, was unseren KollegInnen zum Beispiel in der Türkei zuletzt an Repressalien begegnet ist, auch Artikel 97, die Richterliche Unabhängigkeit anführen. Auch jedes einzelne der 19 Grundrechte ist ganz wunderbar. Aber wenn ich nur einen Satz, nur einen Artikel nennen darf, dann natürlich Artikel 1. Hätte unser Grundgesetz nur diesen einen Satz – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – es wäre bereits ein großartiges Werk.

Gab es auch eine negative Überraschung beim Durcharbeiten des Grundgesetzes?
„Negative Überraschung“ trifft es nicht wirklich. Aber, so ehrlich muss man sein: In vielen Teilen ist die Verfassung dann doch auch ein sperriger, und schwer konsumierbarer Gesetzestext. Artikel 143b zur „Umwandlung der Deutschen Bundespost“ beispielsweise hat dann natürlich nicht mehr die Wirkmacht der großen Einstiegs-Artikel. Aber deshalb ist das, was wir getan haben, ja auch so sinnvoll. Wir bieten durch das Design die Möglichkeit, sich dem Grundgesetz häppchenweise zu nähern. Mal hier einzusteigen, mal dort zu blättern. Und auch gerne mal ein paar Kapitel zu überspringen.

Das Heft ist jetzt schon eine Weile draußen, welche Reaktionen haben Dich besonders gefreut?
Der allererste Anruf ist bis heute der schönste. Eine Dame aus Berlin, deutlich über 80 Jahre alt, aber hellwach im Kopf. Sie hatte von dem Projekt in der Zeitung gelesen, ist zum Kiosk gegangen und hat die dort liegenden zwei Hefte gekauft. Übers Internet hat sie dann meine Telefonnummer herausgefunden und sagte, sie brauche noch weitere sechs. An Weihnachten kämen ihre acht Enkel, und sie wolle jedem ein Magazin schenken. Ich könnte es nicht besser erfinden; sie sagte dann mit einem ganz und gar nicht traurigen Ton: „Wissen Sie: Die Oma ist irgendwann weg. Aber das Grundgesetz, das bleibt. Und das ist dann irgendwann einmal eine schöne Erinnerung an Oma.“ Wir hatten im Anschluss noch ein paar Mal Kontakt. Und an Weihnachten hat sie mir Fotos aufs Handy geschickt. Alle acht Enkelkinder mit dem Heft in der Hand. Mehr geht nicht. Da kommt dann selbst ein Brief von Wolfgang Kubicki und auch eine hymnische Besprechung von Heribert Prantl in der Süddeutschen nicht ran – so sehr ich mich vor allem über Letztere auch gefreut habe.

Jetzt mal unter uns: Das Heft verkauft sich super, wurde als Weihnachtsmärchen der Magazinbranche gelobt. Ist es aber wirklich der Beweis dafür, dass Print-Magazine – entgegen aller Unkenrufe – eine große Zukunft haben?
Unter uns? Nein. Von diesem Erfolg läßt sich allenfalls ableiten, dass man Dinge, von denen man überzeugt ist, auch einfach mal umsetzen muss. Ich bin von jeher lieber ein Optimist, der widerlegt wird, als ein Pessimist, der Recht behält. Wenn ich in einem großen Verlag vorgeschlagen hätte, dass ich gerne einen 70 Jahre alten Text, der überall kostenlos verfügbar ist, auf Papier drucken und für zehn Euro an den Kiosk legen würde – es hätte wohl nicht viele gegeben, die ernsthaft auch nur zwei Minuten darüber nachgedacht hätten…

Und was plant Ihr zum tatsächlichen Grundgesetz-Jubiläum im Mai?
Grundgesetze nachdrucken und verkaufen! Ich glaube ja tatsächlich, dass der bisherige Achtungserfolg nur ein Anfang ist. Rund um den 70. Geburtstag erhält das Projekt ja erst die volle Dröhnung Aufmerksamkeit. Da bin ich zu Gast in TV-Talkshows und Bestandteil nahezu jeder Print-Serie zum Grundgesetz. Ich möchte, dass die Schulen das Magazin entdecken. Dafür starten wir in der Woche des Geburtstags eine größere Geschichte auf Instagram. Ich möchte, dass Unternehmen es im großen Stil kaufen und es ihren MitarbeiterInnen schenken. Und ich möchte an den Kiosken und in den Buchhandlungen dauerhaft an den Kassen liegen, und in den Schaufenstern hängen. Das Grundgesetz ist immer Thema. So leicht und flockig sich das hier jetzt vielleicht auch liest: Bislang war dieses gesamte Projekt jeden Tag Steine klopfen. Weder die Vermarktung, noch der Vertrieb, noch die Verkäufe waren Selbstgänger. Ich habe mich auf allen Feldern über nun sechs Monate komplett aufgerieben. Mit dem höchsten persönlichen Einsatz – wirtschaftlich, physisch und mental. Mich hat in meinem gesamten Berufsleben noch nie das Gefühl beschlichen, ich hätte es nun aber wirklich mal verdient, dass ein Projekt an der Kasse zum Bestseller wird. Diesmal schon!

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Hier kann man das Grundgesetz als Magazin bestellen Das Interview ist Bestandteil der meines Newsletters Digitale Notizen, in der April-Folge kann man nachlesen, warum ich mich mit dem Grundgesetz-Geburtstag befasse – und wie man ein Exemplare des Magazins gewinnen kann.

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