Was geht online? Die Netzkulturcharts sind meine völlig subjektive Antwort auf diese Frage. Ich liste darin Phänomeme auf, die ich inspirierend, interessant oder bemerkenswert finde. Sie erscheinen als kostenfreier monatlicher Newsletter. Sie erscheinen wegen der Space-Karen-Entscheidung Revue einzustellen nur noch als Bestandteil meines Digitale Notizen-Newsletters.
Der Begriff „Netzkultur“ ist dabei bewusst offen und der zeitliche Bezug kann schlicht daran liegen, dass mir dieses Phänomen erst in dem Monat aufgefallen ist. Die Charts aus den Vormonaten stehen hier.
Platz 1: Jeden Tag in der Hood, Bro 🆕
Die virale Großerzählung vom virtuellen Tellerwäscher zum Klick-Millionär zeigt immer nur diejenigen, die sich in die öffentliche Aufmerksamkeit gespielt und dann Erfolg haben. All die gescheiterten Versuche, mit vermeintlich einfachen Mitteln nach viraler Reichweite zu greifen, sehen wir kaum. In diesem Monat macht ein junger Mann auf Tiktok eine Ausnahme: Er nennt sich @juizz_live und durfte dort auf sehr viele For-you-Pages spazieren, dabei filmt er sich stets laufend, meist mit einer goldenen Grillz-Zahnreihe im Mund und Papierbündeln, die wie Geldscheine aussehen in der Hand. Über sechs Millionen Mal wurde der Clip aufgerufen, der ihn dabei zeigt, wie er eine Person, die offenbar sein Bruder ist, über seine Verlässlichkeit (jeden Tag!) und Unantastbarkeit (keiner kann was machen) in Kenntnis setzt: „Ich bin jeden Tag in der Hood, Bro“, sagt er wiederholt und ergänzt: „Guck mal, ich lauf mit Millen durch die Hood, Bro. Mit Millen durch die Hood, Bro.“ Dabei handelt es sich um eine Slangbezeichnung für tausend Euro (Mille), die er mit einem absichtsvollen „mit, mit, mit„-Stottern betont und die Information über seinen Geldspaziergang durch die Nachbarschaft wiederholt. Zum Abschluss fragt er rhetorisch in die Kamera: „Und wer kann was machen?“ Und gibt sich voller Überzeugung selbst die Antwort: „Keiner kann was machen. Keiner kann was machen.“ Dabei handelt es sich um eine Rap-Referenz auf einen gleichnamigen Fler-Song.
Dabei wird juizz_live selbst nicht als Rapper, sondern im ironisierten Tiktok-Kontext referenziert. Zahlreiche Tiktoker wie Julyanpohl (sehr lustig) beziehen sich auf ihn und bringen ihm zumindest Tiktok-Reichweite – diese aber auf die Musik von juizz_live zu übertragen, ist bisher gescheitert. Aber vielleicht kommt das ja noch: immerhin ist er ja jeden Tag da: in der Hood. Bro!
Platz 2: „Endlos_demo“ Mayberg 🆕
Vor einem Jahr veröffentlicht Luis Raue unter seinem Musikernamen Mayberg den Song „Kann das sein“. Darin singt er die Zeile: „Die Welt ist schlecht. Aber immerhin gibt es Tiktok.“ Das ist eine schöne Referenz, weil immer mehr Musiker:innen mit und durch Tiktok bekannt werden – so auch Mayberg selbst. Gerade sind zwei seiner Songs auf der Plattform extrem populär: Spiegelbild wird gerne und häufig genutzt – vor allem aber auch eine beschleunigte Version seines Songs Endlos_demo, darin singt er von einer Liebe zwischen zwei Teenager. Die Zeile „Wir sind beide 13 Jahre alt“ wird in zahlreichen Clips genutzt – von Menschen gleichen Alters, aber auch in anderen Beziehungen. „Das sind oftmals Videos, in denen die Alterspanne der gezeigten Pärchen über einem moralisch- und gesellschaftlich-vertretbaren Maximum liegt“, schreibt Pia Schneider bei diffus. „Besonders Minderjährige offenbaren hier ihre Beziehungen zu weitaus älteren, längst volljährigen Personen – teilweise reflektiert, teilweise unreflektiert. Die Problematik wird schnell klar und zeigt ein generelles Problem der TikTok-Hypes: Künstler:innen haben oft kaum bis gar keinen Einfluss mehr darauf, was die Community aus ihren Songs macht und vor allem ob daraus ein positiver oder negativer TikTok-Trend entsteht. Dieser kann wie im Beispiel von Mayberg auch komplett aus dem Kontext des eigentlichen Songs gerissen werden.“
Platz 3: „I can Buy Myself Flowers“ Miley Cyrus 🆕
Vor neun Jahren hat Bruno Mars den Song „When I Was Your Man“ veröffentlicht. In diesem Januar werden nicht nur viele Miley-Cyrus-Fans nach dem Song gesucht haben. Denn deren erste Single „Flowers“ vom für März angekündigten Album kann als klare Antwort auf Bruno Mars Liebeslied gehört werden. Dort heißt es: „I should’ve bought you flowers / And held your hand / Shoulda gave you all my hours / When I had the chance / Take you to every party /’Cause all you wanted to do was dance„. Bei Miley Cyrus hingegen klingt es so: „I can buy myself flowers / Write my name in the sand / Talk to myself for hours / Say things you don’t understand / I can take myself dancing / And I can hold my own hand„. Flowers ist also ein wunderbarer referenzierter Break-Up-Song, der auch deshalb viele Menschen fasziniert, weil er als Antwort auf die zerbrochene Liebesgeschichte mit Cyrus‘ Ex-Mann Liam Hemsworth gelesen werden kann. Dass dieser ausgerechnet an dem Tag Geburtstag hat, an dem Flowers veröffentlicht wurde, öffnete die Tür zu unzähligen Spekulationen und möglichen Andeutungen in Song und Video. In jedem Fall bringt all das Flowers ganz weit nach oben in die Ohrwurm-Charts.
Platz 4: 🥐 Croissant Army 🆕
Memes funktionieren stets wie Running-Gags, die nur eine bestimmte Gruppe versteht. Für alle anderen wirken sie unverständlich oder absurd. So wie das kommentarlose Posten eines Croissant-Emojis unter einem Tiktok-Video. Genau das ist dem US-Tiktoker TheSleepyParamedic im vergangenen Monat passiert – und er hat ein Meme daraus gemacht, wie die Washington Post hier sehr anschaulich nacherzählt. Aus dem Quatsch wurde ein Running-Gag, hinter dem sich alle Croissant-Freund:innen versammelten und sich fortan als #croissantarmy bezeichnen. Als solche werden sie von The Sleepy Paramedic aufgerufen, bei anderen zu kommentieren oder im Geistes des Croissants für gute Zwecke zu spenden. 🥐
Platz 5: Green, green grass – Familientanz 🆕
Vor der Kamera zu tanzen und sogar sich tanzend vor der Kamera zu verwandeln, ist allein kein Grund mehr für einen Tiktok-Trend. Dazu braucht man im Januar 2023 schon die Familie – sozusagen als versöhnende Variante der Generationen-Kämpfe sieht man in diesem Monat Kinder und Eltern zu einer Speed-Version von Georg Ezras „Green Green Gras“ tanz-hüpfen. Die Besonderheit dieses Tanzes: es wird jeweils das Geburtsjahr der Generationen-Tänzer:innen eingeblendet.
🎶Ungebetene Ohrwürmer* des Monats🎶
1. Miley Cyrus „Flowers“
2. Mayberg „endlos_demo“
3. Georg Ezra „Green green gras“ (Sped)
4. Ski Aggu „Party Sahne“ (aber schneller)
5. Taylor Swift „Anti-Hero“
* in dem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ nutze ich Ohrwürmer als Metapher um die Wirkung von Memes zu beschreiben. Deshalb ist es nur konsequent, sie nicht nur metaphorisch, sondern eins-zu-eins zu nehmen.
Besondere Erwähnung
The Atlantic ruft „This is Fine“ zum Meme der Dekade aus, die New York Times berichtet über den Zusammenhang zwischen Inflation und Egg-Meme. Der Mönch von Lützerath hat nicht nur hohes Meme-Potenzial gehabt, der Tagesspiegel hat ihm auch nach-recherchiert. In Düsseldorf zeigt die Wonderwalls-Ausstellung im NRW-Forum, wie Museen junges Publikum erreichen können – mit Instagram.
Wie schlagen sich Publisher auf Tiktok? Eine Übersicht auf Digiday. Wie verändert Tiktok den Immobilienmarkt? Ein Beispiel aus New York.
Seema Pankhania kocht das jeweils populärste Gericht jeden Landes – und filmt sich dabei: Around the world in 195 meals ist ein spannende Serie, über die die Washington Post berichtet. Twitter diskuiert über den Namen dieser Fruchtkaramellen.