It’s corn, Excuse me wir haben 2022, NAFO, Ein-Wort-Tweets, Nina Chuba, Snowflake (Netzkulturcharts September 2022)

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Was geht online? Die Netzkulturcharts sind meine völlig subjektive Antwort auf diese Frage. Ich liste darin Phänomeme auf, die ich inspirierend, interessant oder bemerkenswert finde. Sie erscheinen als kostenfreier monatlicher Newsletter. Der Begriff „Netzkultur“ ist dabei bewusst offen und der zeitliche Bezug kann schlicht daran liegen, dass mir dieses Phänomen erst in dem Monat aufgefallen ist. Die Charts aus den Vormonaten stehen hier.

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Vorab: Wer sich für Netzkultur begeistert, sollte Snowflake kennen. Diese Browser-Erweiterung hilft all denen, die das Netz nicht einfach so benutzen können. Zu den Protesten im Iran empfehle ich die Einordnung meiner Kollegin Dunja Ramadan bei der SZ.

Platz 1: It’s corn 🆕

Der bekannteste Junge des Internet war vor wenigen Wochen noch völlig unbekannt, mittlerweile ist Tariq als „The Corn Kid“ ein Star, der zur Filmpremiere von „Pinocchio“ eingeladen und von der New York Times porträtiert wird. Dabei hatte er nichts anderes getan als in einem kurzen Video-Interview des Channels Recess Therapy seine Begeisterung für Mais kund zu tun. Dass aus diesem scheinbar belanglosen Interview in Brooklyn nicht nur der virale Hit des Sommers, sondern sogar ein richtiger Song wurde, liegt an echten Experten der Viralität: die Gregory Brothers entdeckten und autotunten Tariqs Corn-Begeisterung und traten damit ein Massen-Mais-Phänomen los – zu dessen vorläufigem Höhepunkt sogar der offizielle Tiktok-Account auf Tiktok seine Bio in „It’s corn“ änderte. Deshalb gebührt mindestens die Hälfte der Chartspitze in diesem Monat dem Musik-Quartett, das auf YouTube schmoyoho heißt und schon seit Jahren in Sachen Viralität unterwegs ist. Die andere Hälfte gehört Tariq und seiner Familie, die dafür gesorgt hat, dass sein Nachname trotz des plötzlichen Ruhms nicht an die Öffentlichkeit kommt.

Platz 2: Excuse me, wir haben 2022 🆕

Als die Tiktokerin Linneasky im Juli diesen Jahres eine Nutzer:innen-Frage zum Thema BH beantwortet, ist ihr vermutlich nicht klar, dass die nun folgenden Sätze am Ende des Sommers zu einen geflügelten Wort der Netzkultur werden: „Excuse me, wir haben 2022“ wird nicht nur in allerlei Zusammenhängen zitiert, geremixt und gestiched, es gibt auch ein Mashup mit dem „Fettes Brot“-Jahreszahlenklassiker „Jein“. Aber anders als bei den Gregory Brothers und ihrem Corn-Kid hat sich bisher noch niemand gefunden, der einen wirkliche populären Song aus dem Spruch gemacht. So bleibt die Freude an der Unplanbarkeit von viralen Phänomenen.

Platz 3: NAFO 🆕

Wenn das Internet einen Wachhund suchen würde, es wäre der Shiba Inu, das Krafttier des Doge-Meme. Seit ein paar Wochen ist der das Symbol der digitalen Friedensbewegung namens NAFO geworden. Die North Atlantic Fellas Organisation ist eine zaunpfahlwinkende Anspielung auf das Verteidigungsbündnis ähnlichen Namens und versucht mit digitalen Mitteln auf den russischen Angriffskrieg in der Ukrainie zu reagieren. Der Economist hat als erstes größer darüber berichtet und ich finde das mehr als bemerkenswert – wie ich in diesem Interview mit dem Deutschlandfunk erklären durfte.

Platz 4: Ein-Wort-Tweets 🆕

Wofür willst du im Netz stehen? Die Antwort auf diese Frage in einen Ein-Wort-Tweet zu packen, war Anfang des Monats für ein paar Tage ein großes Ding. Der One-Word-Tweet-Trend wurde von den „trains“ von Amtrack ausgelöst und steht für eine kleine, scheinbar bedeutungslose Besonderheit, die die Netznutzung so zauberhaft macht – und mich dazu gebracht hat, schlicht „internet“ zu twittern.

Platz 5: Nina Chuba „Wildberry Lillet“🔽

Der Trend um Nina Chuba ist ungebrochen. Ihr „Wildberry Lillet“ läuft weiterhin aus allen Boxen und erscheint in immer neuen Remixen. Sogar der französische Spirituosen-Hersteller Pernod Ricard hat sich offiziell geäußert (ihm gehört die Marke „Lillet“), die Sparkasse macht mit Aditotoro Werbung damit – aber nichts und niemand kriegt diese Zeilen kaputt. „Immos, Dollars, fliegen wie bei Marvel“ machen immer noch großen Spaß.
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🎶Ungebetene Ohrwürmer* des Monats🎶

1. Armani White „Billie Eilish“
2. Tariq, The Gregory Brothers, Recess Therapy „It’s corn“
3. Romero „Nie mein shawty“
4. Nina Chuba „Wildberry Lillet“
5. Rian „Schwarzes Schaf, Akustikversion“

* in dem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ nutze ich Ohrwürmer als Metapher um die Wirkung von Memes zu beschreiben. Deshalb ist es nur konsequent, sie nicht nur metaphorisch, sondern eins-zu-eins zu nehmen.
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Besondere Erwähnung:

Fürs digitale Vokabelheft unbedingt den Begriff Bootleg Ratio notieren. Bei Verge nutzt Russel Brandom ihn, um die Veränderungen des Contents auf Plattformen zu beschreiben. Gemeint ist das Verhältnis zwischen „a) Inhalte, die von Benutzern speziell für die Plattform erstellt wurden, und b) halbanonyme Accounts, die in Interaktion treten und das Publikum abwerben. Jede Plattform wird beides haben, aber wenn B beginnt, A zu überholen, haben die Benutzer immer weniger Gründe, sie zu besuchen, und die Ersteller werden immer weniger Gründe haben, zu posten. Kurz gesagt, es ist ein Zeichen dafür, dass die interessanten Dinge über die Plattform allmählich aussterben.“ (Danke für den Hinweis Johannes)

Eine zweite wichtige Veränderung, die im September durch den Start von Tiktok Now Bedeutung bekam ist der Vibe-Shift in Social-Media. Das Social-Media-Watchblog nennt die Hinwendung zu einer vermeintlich privateren User-Experience, die sich vom klassischen Reichweiten-Feed abwendet, so.

Passend zum Oktoberfest gibt es einen erwähnenswerten bayerischen Remix des Top-Ohrwurm des Monats von Armani White „Billie Eilish“. In der Bavaria Version wird „Billie Eilish“ zu „aber bayerisch“ – dabei wird eine Transition hin zu bayerischer Tracht ins Bild gesetzt.

Tiktok lässt in diesem Monat eine mit ausschließlich Werbe- und Marketing-Knowhow besetzte Jury einen Tiktok-Award verleihen. USA Today zeigt am Beispiel der Behauptung des Wahlbetrugs wie Memes die politische Debatte durchsetzen. Welche Plattformen Memes treiben, hat Know Your Meme untersucht.

Wie man Nachrichten in einem Meme-Umfeld erstellt, erklären die Macher:innen der „News WG“ vom Bayerischen Rundfunk in diesem Instagram-Interview. Wie der Tod der Königin von England in Wikipedia vermeldet wurde? Dieser Thread fasst es zusammen.

Weiterhin ein Highlight meiner Timeline: die twitterisierten Tagebücher von Thomas Mann (Hintergrund dazu hier)

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Die Netzkulturcharts sind eine subjektive Rubrik aus meines Newsletter „Digitale Notizen“. Mehr über Netzkultur in meinem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“. Die Platzierungen der Vormonate sind hier nachzulesen.

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