„Ich liebe beides, jedes auf seine Art!“ – Jasmin Schreiber über Lesungen und Live-Streams

Jasmin Schreiber hat im Frühjahr den Roman Marianengraben veröffentlicht. Die Lesetour zum Buch wurde von Corona unterbrochen. Sie begann Lesungen im Live-Stream und startete den Account Streamkultur, in dem sie Hinweise auf besondere Live-Streams kuratiert. Ich habe ihr ein paar Fragen zum Thema geschickt.

Du kümmerst dich seit Wochen um das Thema Live-Stream. Als Autorin, die vorliest aber auch als Kuratorin, die andere Streams empfiehlt. Deshalb die schwierigste Frage zu Beginn: Erleben wir gerade den Aufstieg des Live-Streams als kulturelles Format?
Livestreams spielen auf jeden Fall auf einmal in Bereichen eine Rolle, wo es bislang eher Berührungsängste mit solchen „Internetformaten“ gab. Ich erkenne auf jeden Fall neue Chancen! Als Beispiel: Die Live-Lesungen des Poetry-Slammers Fabian Navarro, der beim Lesen Hintergrundmusik einspielt und das alles in Richtung eines Livehörspiels verschiebt. So etwas hat das Potenzial, zu bleiben.

Es gibt immer wieder Kritik, dass ein virtueller Stream nur eine billige Kopie sei und ein echtes Erleben nicht ersetzen könne. Wie ist deine Haltung dazu?
Ich denke man sollte nicht einfach versuchen, etwas Analoges „zu ersetzen“. Einfach nur in die Kamera lesen, wie bei einer klassischen Vor-Ort-Lesung, funktioniert nicht. Man muss sich neue Formate überlegen, die maßgeschneidert für Livestreams ablaufen. Für mich ist das kein schnödes Ersetzen, es ist einfach ein ganz anderes Format. Abgesehen davon wehre ich mich generell gegen diese Unterscheidung von „echt“ und „Internet“. Das Internet ist auch „echt“, die Erlebnisse dort sind genau so real wie Vor-Ort-Events.

Was macht einen richtig guten Live-Stream aus?
Livestreams leben vom Live-Moment und der Interaktion, sonst könnte man ja auch einfach ein Video hochladen. Man muss das Publikum einbeziehen und damit Interaktivität schaffen, man muss sich neue Dinge ausdenken, die auf einer klassischen Lesung so vielleicht nicht möglich wären. Ich lese zum Beispiel immer im Pyjama und erwarte von meinem Publikum, ebenfalls im Pyjama zu streamen und mir Beweisfotos zu schicken. So bildet sich eine eingeschworene Community und ich denke, das ist wichtig.

Hast Du als Zuschauerin einen Lieblings-Stream und kannst Du erklären, was dich daran besonders fasziniert?
Tatsächlich der eben erwähnte Stream von Fabian Navarro. Er liest episodisch seinen Katzenkrimi vor, dabei spielt er Hintergrundmusik ein und hat sogar Werbejingles aus dieser Katzenwelt komponiert, mit denen er seine Streams mit Werbepausen unterbricht. Er liest auch nicht allein, sondern lässt immer mal Schauspieler*innen lesen. Das finde ich sehr kreativ, das alles erhöht die Spannung immens.

Ich habe hier im Blog ganz unterschiedliche Menschen befragt, die den Live-Stream nutzen, um ihren Job trotz physischer Distanz auszuüben. Dabei kommen sehr unterschiedliche Plattformen und Technologien zum Einsatz. Hast Du einen Favoriten an Technik und Plattform, die du selbst nutzt?
Ich finde tatsächlich Twitch sehr gut, weil sich da die Teilnehmer*innen im Chat austauschen können, außerdem ist es ein offenes Format, d.h. man muss sich nicht anmelden. Und man kann das am Fernseher schauen, das finde ich alles für die Zuschauenden sehr komfortabel. Meine Oma schaltet da regelmäßig ein!

Wie ist es überhaupt für Dich als Autorin, nicht vor eine physischen Publikum bei einer Lesung aufzutreten? Gibt es auch etwas das besser ist?
Ich vermisse meine physischen Lesungen sehr, sehe aber die Livestreams nicht unbedingt als Ersatz. Für mich ist das wie Äpfel und Birnen zu vergleichen, also vergleiche ich das nicht. Das sind zwei unterschiedliche Formate, und ich denke, ich werde das Streamen auch später parallel zu physischen Lesungen beibehalten. Ich liebe beides, jedes auf seine Art!

In Streamkultur wählt Ihr wie eine Fernsehzeitung Programmhinweise für Live-Streams. Es gab früher mal den Satz, dass das Internet kein „Einschaltmedium“ sei. Ist der Satz womöglich Quatsch?
Tatsächlich finde ich ihn unsinnig, denn: Das Internet ist alles, was wir daraus machen. Selbst bei streamlined Inhalten wie Liveübertragungen gibt es einen großen Unterschied zu einem Fernsehprogramm, denn die Leute schauen diese Streams ja gemeinsam und können sich dabei in Chat und Co. austauschen. Es ist ein Gemeinschaftserlebnis.

Kannst Du eine Prognose wagen: Wie wird es mit der Live-Streamkultur weitergehen?
Ich denke viele Sachen werden sich im Sande verlaufen, das merkt man ja schon jetzt. Aber ich bin sicher, dass einige Streams bestehen bleiben und finde auch toll, wie selbstverständlich Konzerthäuser und Co. Sofort auf Livestreams umgestiegen sind. Ich bin sicher, dass sich das ein oder andere Format etablieren wird.

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Dieses Interview ist Teil einer kleinen Serie hier im Blog, die sich mit Streaming und Video-Konferenzen befasst. Dazu sind erschienen:
> Shruggie des Monats: Der Live-Stream
> Zehn Lehren aus der Coronakrise für Videokonferenzen und Live-Streams
> Performance-Künstler Marcus John Henry Brown über die Herausforderung, Menschen im Stream zu halten
> Social-Media-Experte Michael Praetorius über Workshops im Stream
> Pfarrerin Miriam Hechler über Gottesdienst im Stream
> Museums-Experte Maximilian Westphal über Führungen im geschlossenen Museum
> DJ Ivo Schweikhardt übers Auflegen im Stream
> Autor Pierre Jarawan über Workshops zum Kreativen Schreiben im Stream
> Musikerin Maria über Musikunterricht im Stream
> Denny Leo Kinder über Friseure im Stream
> Wolfgang Tischer über Lesungen im Stream
> Die Therapeuten Imke Herrmann und Lars Auszra über Therapie im Stream
> Lehrer Philippe Wampfler über Unterricht im Stream
> Autor Tom Hillenbrand über Krimis auf Twitch
> VHS-Chef Christof Schulz über Volkshochschule im Stream
> Zukunftsforscher Gerd Leonhard über die Zukunft von Live-Events und Live-Streams

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