„Grautöne sichtbar machen“ – Martha Eierdanz über konsens

Welche Wege gibt es, um in Gruppen gute Entscheidungen zu treffen? Martha Eierdanz und Maximilian Hoffmann aus Berlin haben dafür eine tolle Website ins Netz gestellt, die auf Basis der Methode des systemischen Konsensierens möglichst vielen Menschen Entscheidungsfindung zugänglich machen will: konsens.it ist eine Art Doodle für die Entscheidungsfindung. Ich habe Martha einige Fragen zu dem Projekt gestellt.

Ihr habt eine Seite ins Netz gestellt, die helfen will, Lösungen in einer Gruppe zu finden. Wie seid Ihr auf die Idee gekommen?
Max beobachtete bei seiner früheren Arbeit, dass es für die fünf gleichberechtigten Partner schwierig war Entscheidungen zu treffen, weil sie häufig unterschiedliche Ansichten hatten. Dadurch wurden Entscheidungen verzögert oder es wurden Lösungen erneut diskutiert, die eigentlich schon verworfen waren.

Er begann deshalb zu recherchieren, wie man Entscheidungsprozesse in Gruppen effizienter machen kann. Dabei ist er auf die Methode des Systemischen Konsensierens gestoßen, bei der Vorschläge mit Widerstandspunkten bewertet werden. Wir waren beide zu der Zeit in der Klimabewegung aktiv und haben festgestellt, dass auch dort die Methode regelmäßig genutzt wird, z.B. von Fridays for Future. In der analogen Durchführung ist sie jedoch relativ komplex, erfordert Moderation, Materialien und die manuelle Berechnung der Ergebnisse. Zudem müssen sich alle Teilnehmenden zu einem Zeitpunk zusammenfinden.

So kam die Idee, den Prozess zu vereinfachen und digital abzubilden. Dadurch haben Teilnehmende die Möglichkeit auch außerhalb von Meetings und zu unterschiedlichen Zeiten Vorschläge einzureichen und abzustimmen. Spätestens seit der Pandemie mit Home-Office und überwiegend digitaler Kommunikation wurde diese Möglichkeit noch wichtiger.

Die Seite erinnert ein wenig an eine Art Doodle zur Konsens-Findung. Hast Du eine Idee, weshalb es so etwas zwar zur Terminkoordination gibt, bei inhaltlichen Fragen, die ja häufig viel bedeutsamer sind, aber eher unbekannt ist?
Ich denke das hängt mit dem geringen Demokratisierungsgrad unserer Wirtschaft und Arbeitswelt zusammen. Aktuell arbeiten die meisten von uns in Hierarchien mit wenig Entscheidungsmacht und Selbstbestimmung. Wichtige Entscheidungen werden von Vorgesetzten getroffen.

Hierarchische Strukturen eignen sich jedoch nicht, um flexibel auf komplexe Probleme zu reagieren. Eine einzelne Person hat nie alle Informationen, um eine fundierte Entscheidung treffen zu können. Deshalb beziehen immer mehr Organisationen ihre Mitarbeitenden in Entscheidungen ein. Hierarchien werden flacher und Teams arbeiten zunehmend selbstorganisiert. Dadurch entsteht auch der Bedarf nach neuen Prozessen und Werkzeugen, mit denen Menschen gemeinsam effektiv Entscheidungen treffen können. Wir sehen konsens daher als einen Beitrag zur Demokratisierung der Arbeitswelt.

Tatsächlich haben wir uns an der Einfachheit von Doodle orientiert. Wir wollten ein ebenso barrierefreies Nutzungserlebnis schaffen: ohne Anmeldung und mit einem Link, den man teilen kann. Während Doodle mittlerweile von allen Teilnehmenden die E-Mail-Adresse abfragt, haben wir das bewusst vermieden. Datensparsamkeit und ein deutscher Server-Standort waren uns sehr wichtig, weil wir aus der Klimabewegung und unserer Arbeit wissen, dass das eine Voraussetzung für den Einsatz in gemeinnützigen und politischen Organisationen ist.

Die Besonderheit an der Seite ist, dass Ihr keine Präferenzen abfragt und dann quasi nach demokratischen Kriterien einen Sieger kürt. Ihr dreht es genau um und fragt nach Widerstandspunkten. Warum?
Eine wichtige Erkenntnis aus unserer Recherche war, dass Widerstandspunkte gegenüber Mehrheitsentscheiden deutliche Vorteile haben. Erstens macht es einen großen Unterschied, ob wir uns fragen „wie sehr mag ich etwas?” oder „wie sehr kann ich mit etwas leben?“. Letzteres zwingt uns darüber nachzudenken was uns stört und was geschehen müsste, damit dieser Störfaktor nicht mehr existiert. Zum einen hilft das kritische Punkte aufzudecken, die sonst nicht an die Oberfläche gekommen wären. Zum anderen ist es ein erster Schritt zu einem besseren, angepassten Vorschlag, der die Störfaktoren nicht mehr enthält.

Zweitens ist es fast unmöglich zu einer Lösung zu kommen, die alle gut finden. Bei konsens geht es stattdessen darum eine Lösung zu finden, die alle mittragen.

Drittens bringt die Abstufung zwischen 0 und 10 mehr Nuancen mit als die Wahl zwischen Ja, Nein und Enthaltung. Diese Nuancen geben ein viel besseres Stimmungsbild ab.

Zusammengefasst bringen Widerstandspunkte die Teilnehmenden dazu, kritischer mit der eigenen Meinung umzugehen, nach Lösungen zu suchen und seltener Entscheidungen aufgrund reiner Vorlieben zu blockieren.

Habt Ihr einen idealen Nutzer:innen-Typ vor Augen, der Eure Seite nutzen soll?
Grundsätzlich kann konsens in allen möglichen Kontexten genutzt werden, egal ob in Unternehmen, in politischen Organisationen oder im Privaten mit Freunden und Familie. Wir sind aktuell in Kontakt mit unterschiedlichen Gruppen aus dem sozialen und politischen Bereich, weil dort demokratische Entscheidungen bereits die Regel sind.

Wir hoffen jedoch, dass konsens auch in anderen Bereichen zu mehr partizipativen Entscheidungen führt, weil sie mit konsens einfacher und schneller durchzuführen sind. Wenn dadurch mehr Entscheidungen auf kollaborative und demokratische Weise getroffen werden, wäre das für uns ein großer Erfolg.

Könnte man das Instrument auch nutzen, um zum Beispiel politische Entscheidungen zu treffen?
Auf jeden Fall. Es haben schon Organisationen aus dem politischen Bereich Interesse bekundet, konsens für die Beteiligung von Bürger:innen zu nutzen. Ein weiteres Beispiel sind Bürger:innenräte, die zunehmend zum Einsatz kommen. Dabei werden Bürger:innen zufällig ausgelost, um zu einem bestimmten Thema einen Vorschlag auszuarbeiten, der anschließend der Regierung vorgelegt wird.

Die Entscheidung trifft aber natürlich nicht konsens selbst, sondern immer die Menschen die konsens nutzen. konsens zeigt vielmehr ein Stimmungsbild auf und identifiziert die Lösung, die von den meisten Teilnehmenden mitgetragen wird. Was die Beteiligten daraus machen, ist ihnen überlassen.


Am Ende ist die Seite ein Lob der Fähigkeit zum Kompromiss. Täuscht mein Eindruck, dass diese Fähigkeit ein wenig verloren gegangen ist?

Ich verstehe den Eindruck sehr gut. Meiner Meinung nach hängt das damit zusammen, wie Macht in Organisationen verteilt ist und wie infolgedessen Entscheidungen getroffen werden. In vielen Organisationen herrschen hierarchische Strukturen. Dort werden erst gar keine Kompromisse gesucht, weil Vorgesetzte Entscheidungen ohne Abstimmungen treffen können. Dadurch kann die Fähigkeit zum Kompromiss auch nicht geübt und gestärkt werden. In demokratischen Strukturen hingegen sind Kompromisse unvermeidbar, da Macht verteilt ist und viele Menschen mitentscheiden.

Zudem erzeugen andere Entscheidungsmethoden Konkurrenz zwischen Gewinner:innen und Verlierer:innen. Nehmen wir z.B. den Mehrheitsentscheid, also die Wahl zwischen Ja, Nein und Enthaltung. Wenn man selbst mit Nein stimmt, aber die meisten Menschen mit Ja, fühlt man sich direkt als Verlierer:in. Es fällt schwer in dieser Situation etwas Positives für sich herauszuziehen. Die Welt ist aber nicht Schwarz und Weiß wie beim Mehrheitsentscheid. Deshalb geben Widerstandspunkte ein besseres Bild ab. Sie machen die Grautöne sichtbar, so wie sie im echten Leben existieren.

Unter konsens.it kann man das Instrument auf deutsch und englisch ausprobieren