Digitale Nachbarschaft (Digitale September-Notizen)

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Dieser Text ist Teil der September-Folge meines monatlichen Newsletters „Digitale Notizen“, den man hier kostenlos abonnieren kann.
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Wie gut kennen Sie Ihre Nachbarn? Wissen Sie, welche Wendungen das Leben auf dem Balkon gebenüber nimmt?

Ich muss immer wieder an die lockere soziale Bindung zu den Menschen „next door“ denken, wenn ich Social-Media-Apps nutze. Egal, ob es sich um den Status in WhatsApp (lesenswert aufgeschrieben von meinem Kollegen Jan Stremmel), um Urlaubsbilder auf Instagram oder Tanzeinlagen auf Tiktok handelt: stets liefern soziale Medien einen virtuellen Blick in das Leben von fremden Menschen, in fremden Wohnungen. (Symbolbild: Unsplash)

Dieser private Blick ist neu und zuweilen noch immer verstörend (über die berufliche Verwendung von sozialen Netzwerken habe ich hier geschrieben). Warum filmen diese Menschen sich bei albernen Tanzeinlagen, weshalb teilt diese entfernte Bekannte ihre Autopanne auf Instagram und welchen Zweck verfolgt der Ex-Kollege mit diesen Videos, die er über seinen Status und YouTube verbreitet? Lange Zeit wurde diese Form des sozialen Austauschs als Oversharing verunglimpft: Selbstdarsteller:innen seien diese Menschen, die ihr Essen fotografieren oder Selfies produzieren. Das konnte man so häufig lesen, dass es mich skeptisch machte: Stimmt das wirklich oder ist die Behauptung von der Darstellungsssucht nicht nur ein Vorwand, sich nicht intensiver mit dieser neuen Form der sozialen Bindung befassen zu müssen? (Wie man sich tiefgehender mit solchen Fragen befassen kann, zeigt Sascha Lobo in dieser Kolumne über Kinderfotos im Internet)

Seit ich selbst anfing, Szenen auf Instagram zu fotografieren, die früher in einem privaten Fotoalbum gelandet wären, beschäftigt mich die Frage nach dem Warum? intensiver als die oberflächliche Antwort von der vemeintlichen Oberflächlichkeit reicht. Der soziale Austausch wird von anderen Treibern beflügelt als der Suche nach Likes oder Anerkennung. Das gilt on- wie offline, das gilt in sozialen Netzwerken wie im Gespräch mit dem Balkon gegenüber. Wir teilen uns mit, weil wir uns darin selbst erkennen. Wer seiner Nachbarin von der eigenen Urlaubsreise erzählt, kennt dieses Gefühl. Es wird nicht schlechter oder gar falsch, nur weil es im Internet stattfindet: Auch digitale Mitteilungen helfen dabei, die Welt einzuordnen und uns selbst zu verstehen. Genau so gut und genau so schlecht wie Gespräche auf dem Gang mit den Nachbar:innen.

Mir hilft das Bild von der digitalen Nachbar:innenschaft um besser zu verstehen, was wir da gemeinsam machen in den sozialen Netzwerken. Wir führen lockere virtuelle Beziehungen, die sehr handfeste (auch positive!) Folgen haben können. So wie Brot&Salz durch echte Fenster gereicht werden, können wir durch virtuelle Fenster Reisetipps, Nachmieter:innen oder Spendensammlungen organisieren. Ja, es gibt auch den Nachbarschaftsstreit am # Gartenzaun – im Internet heißt der Hashtag und beflügelt Auseinandersetzungen, die nicht so anders sind als die Debatte über einen überstehenden Ast im fremden Garten. Online steht ein Gender*sternchen zu hoch und weckt die gleichen „ich werde ungerecht behandelt“-Gefühle wie in der Offline-Nachbarschaft.

Keine Sorge, es geht mir mit dem Bild nicht um eine On- und Offline-Gleichmacherei. Die digitale Nachbarschaft ist selbstredend umfangreicher, vernetzter und breiter als die manchmal tiefer gehende Verbindung zu Menschen, die (fast) die gleiche Adresse haben. Aber beide haben einen positiven, verbindenen, freundlichen Kern. Allein um das nicht zu vergessen, lohnt es sich ein Herz zu drücken, wenn der Ex-Kollege ein Video postet oder die Bekannte Hilfe bei der Autopanne braucht. Wir sind nicht allein – wir sind digitale Nachbarn.

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Dieser Text stammt aus dem monatlichen Newsletter Digitale Notizen, in dem ich öffentlich über Themen nachdenken, die mich beschäftigen. Hier habe ich schon mal über die berufliche Nutzung von sozialen Netzwerken nachgedacht.

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