Was kein Backup festhalten kann: Fünf Dinge, die ich bei Twitter gelernt habe

Droht ein Kollaps der gegenwärtigen Geschichtsschreibung wie die MIT Technology Review dieser Tage schreibt? Der angekündigte Niedergang von Twitter (technisch wie inhaltlich) wirft zahlreiche dieser Fragen auf: Soll ich/muss ich mein Twitter-Archiv runterladen? Muss ich jetzt zu Mastodon wechseln?

Und vor allem: Was geht da eigentlich genau verloren?

Sollte die Plattform tatsächlich weiter in dieser Weise gesteuert werden, droht ziemlich sicher zunächst eine Flut von Nachrufen, die aus persönlich gefärbten Geschichten im Umgang mit Twitter bestehen werden, die dann eine allgemeine Erkenntnis hochrechnen sollen. Dabei liegt darin die erste und weiterhin gültige Erkenntnis im Umgang mit personalisierbaren Diensten: es gibt keinen verallgemeinerbaren Durchschnitt mehr! Was dieser Niedergang in Echtzeit aber ganz sicher offenbart, ist ein Blick auf das, was das digitale Ökosystem ausmacht: auf die Bereiche, die digitale Wertschätzung und Wertschöpfung ermöglichen. Aufgefallen ist mir dies, als ich mich mit der Frage zu beschäftigen begann, ob ich mein Twitter-Archiv laden soll (ja kann man machen, habe jetzt 42.500 Tweets runtergeladen, die ich seit dem 27.3.2007 schrieb). Dabei stellte ich fest: das, was Twitter für mich ausmachte und ausmacht, kann ich nicht in einem Backup festhalten. Diese Erkenntnis und vier weitere Beobachtungen aus meiner Twitter-Zeit (Symbolbild: Unsplash):

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Falls jemand sich mit dem Gedanken trägt, von Twitter auf Mastodon umzuziehen, hier zwei relevante Links: Zum einen gibt es auf dieser Seite eine recht gute Erklärung, zum zweiten bietet der Dienst movetodon.org die Möglichkeit, die Liste derjenigen Accounts zu durchsuchen, denen man auf Twitter folgt. Mit einem Klick kann man ihnen auch auf Mastodon folgen.
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1. Der Zauber liegt im Unkopierbaren

Das schöne deutsche Wort Echtzeit suggeriert, es gebe auch eine falsche Zeit. Eine Form, die nicht live, sondern maximal re-live ist, also nur ein Nacherleben dessen, was vorher original war oder im Wort „echt“. Twitter hat seinen Wert immer aus diesem unmittelbaren Zeiterleben gezogen. Man kann auch sagen, die Halbwertszeit von Beiträgen auf Twitter war und ist extrem kurz. Aber egal aus welcher Perspektive man auf das Phänomen Echtzeit schaut: es bleibt verbunden mit dem direkten Erleben, mit dem, was man nicht kopieren kann. In meinem Buchprojekt „Eine neue Version ist verfügbar“ habe ich mich ausführlich mit dem Unkopierbaren, dem Er- und Mitleben befasst. Mit vielen Worten versuche ich darin zu beschreiben, was man jetzt spüren kann, wenn man sich fragt, was man vermisst, sollte Twitter verschwinden? Genau hier liegt das Potenzial für digitale Wertschätzung und dann auch für Wertschöpfung. Es ist mehr als der Content (in meinem Fall die 42,5k Tweets), es ist die Interaktion, das Erleben (in Echtzeit), die lose Verbindung und die damit verbundene Möglichkeit zu Überraschung. In all dem, was kein Backup festhalten kann, steckt die Chance für digitale Geschäftsmodelle.

2. Soziale Netzwerke enstehen aus Interaktion

Die anfängliche Skepsis gegen den Dienst Mastodon (die ich auch teilte), hängt übrigens nicht nur mit dem dezentralen Charakter des Fediverse zusammen. Sie basiert auch darauf, dass jede:r wieder bei Null anfängt. Für mich was das insofern lehrreich, dass ich merkte, was den Zauber sozialer Netzwerke ausmacht (und was übrigens auch nicht kopierbar ist): Interaktion! Fragen zu stellen, auf Fragen zu antworten, mit anderen Accounts in den Austausch zu treten, sind Aktionen, auf die manche Accounts verzichten, wenn sie große Reichweiten angesammelt haben. Aber ohne diese Aktionen entsteht kaum Wert und es entsteht vor allem keine Reichweite. So ging es mir anfangs auf Twitter und so geht es mir auch jetzt wieder auf Mastodon. Das ist spannend und bestätigt die erste These: der Zauber liegt im Unkopierbaren!

3. Wissen zu teilen, vermehrt Wissen

Die große Revolution des digitalen Zeitalters lautet: Was du teilst, wird mehr! Wer in vordigitalen Zeiten sozialisiert wurde, ist gewohnt, das Teilen als Verkleinerung des eigenen Anteils zu denken. Wie der sprichwörtliche Kuchen, von dem irgendwer große oder größere Stücke bekommen möchte. Geschäftsmodelle, die auf echten Kuchenstücken basieren, sind nur schwer kompatible mit der digitale Idee vom Teilen. Denn mit geteilten Dateien verhält es sich wie mit dem Licht einer Kerze: sie werden nicht weniger, wenn andere ihren Docht daran entzünden. Wissen zu verbreiten, reduziert das Wissen also nicht, sondern führt zu Erkenntnisgewinn. Genau das ist der Hauptgrund, weshalb ich soziale Netzwerke wie Twitter nutze: es macht mich schlauer. Ich teile Wissen und bekomme mehr Wissen zurück – durch den Zauber der digitalen Kopie und durch die Möglichkeit zur Interaktion (Siehe 2.)

4. Meine Welt ist nicht deine Welt

Neben der historischen Ungeheuerlichkeit der digitalen Kopie ist auch die Möglichkeit der Vernetzung eine Herausforderung fürs vordigitale Denken: Soziale Netzwerke sind keine Distributionsrampen mehr, sondern Räume, die von der Art und Weise der eigenen Position und Interaktion leben. Auch wenn Twitter mit der Hochrechnung so genannter Trends Stimmung benennen (und damit übrigens verstärken) kann: es geht hier weniger um die Kraft der Sendenden als um die Filterfunktion der Empfangenden. Welche Timeline filtere ich mir zusammen? lautet die Frage, die man all jenen stellen muss, die allgemein über den Zustand der Welt auf Twitter herumjammern. Es gibt nicht mehr die Öffentlichkeit, es gibt die Öffentlichkeiten! Das klingt nach nur zwei Buchstaben Unterschied, stellt aber im Prinzip die Idee ganzer Wissenschaftszweige vor zentrale Herausforderungen. Denn die Vorstellung dessen, was wir für die öffentliche Meinung halten, bestimmt auch unsere eigene Position. Und wer – aus welchem Grund auch immer – die Äußerungen auf Twitter für die öffentliche Meinung hält, ist damit heillos verloren – selbst wenn sie oder er in renommierten Publikationen schreibt.

5. Vibes bedeuten nicht die Welt

„Wir kennen natürlich die Bedeutung des Wortes „Vibe“. Es ist ein Platzhalter für eine abstrakte Eigenschaft, die man nicht genau bestimmen kann – eine Atmosphäre („a laid-back vibe“). Es ist der Grund dafür, dass man etwas oder jemanden mag oder nicht mag (gute Vibes vs. schlechte). Es ist eine Intuition, für die es keine offensichtliche Erklärung gibt („just a vibe I get“)“, schrieb Kyle Chayka schon im Frühjahr 2021 im New Yorker. Twitter ist voller Vibes und – was noch schlimmer ist – nicht wenige Menschen nutzen Twitter ausschließlich in Vibes. Sie spüren Stimmungen auf, missachten das Ende des Durchschnitts (siehe Punkt 4.) und halten diesen „Vibes“ für einen Ausdruck der Welt, der Öffenltichkeit oder der Gesellschaft. Diese falsche Gleichsetzung von „Vibe“ und „Öffentlichkeit“ bestärkt nicht nur die Memefizierung von Meinungen, sie zeigt auch die weiterhin grundlegende Überforderung des vordigitalen Denkens mit dem digitalen Raum. Ich habe an Twitter immer geschätzt, dass ich mit wenigen Klicks ganz anderer Vibes aufspüren konnte (wenn man so will: Filterblasen verlassen konnte) und mich damit stets daran erinnern konnte: Vibes bedeuten nicht die Welt.

Auf diesen letzten Punkt vertraue ich auch in Bezug auf „die Zukunft von Twitter“. Vielleicht kommt es ja weniger schlimm als der Vibe sich gerade anfühlt. Vielleicht ist das naiv, aber ich fänds gut ¯\_(ツ)_/¯

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Zur Vertiefung der oben genannten Thesen empfehle ich die Lektüre der Bücher „Mashup – Lob der Kopie“, „Eine neue Version ist verfügbar“, „Meta – das Ende des Durchschnitts“ sowie „Meme – Muster digitaler Kommunikation“.
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