Die Fähigkeit, sich irritieren zu lassen

Sascha Lobo hat in dieser Woche eine beeindruckende Rede gehalten. Es war die Würdigung des Lebenswerkes von Frank Schirrmacher im Rahmen der Verleihung „Journalisten des Jahres“ in Berlin. Posthum wurde der ehemalige FAZ-Herausgeber ausgezeichnet und Sascha Lobo stellte vor den anwesenden Journalisten vor allem Schirrmachers Mut heraus, sich berühren und irritieren zu lassen von dem Wandel, der sich Realität nennt.

Bei World Wide Wagner kann man die Laudatio nachhören, aus der ich besonders den „Mut, sich von der Welt beeindrucken zu lassen“ festhalten will:

Deshalb ist essentiell neben der Meinungskraft Frank Schirrmachers ebenso auch seine Bereitschaft zur Weiterentwicklung hervorzuheben. Auch das unterschied ihn von vielen anderen. Deutschland ist das Land des Rechthabens. Es reicht hier aber nicht recht zu haben, man muss auch schon immer recht gehabt haben. Das ist das exakte Gegenteil der Entwicklungsfähigkeit, die Frank Schirrmacher auszeichnete – und die wiederum eine direkte Folge des Mutes ist, die Welt auf sich wirken zu lassen, den eigenen Empfindungen überhaupt Beachtung zu schenken. (…) Emotionslose Unbeeindruckbarkeit – sich also nicht empören zu wollen, sich nicht begeistern zu wollen, sich nicht kopfüber in die eigenen Interessenfelder stürzen zu wollen – ist bei normalen Leuten schon schade, bei Journalisten ist es schlimm, bei großen Publizisten ist es fatal. Hier leuchtet Frank Schirrmacher jedem als journalistisches Vorbild.

Der Autor Christoph Kucklick (der hier übrigens mit Sascha Lobo spazieren geht) hat genau zu dieser Bereitschaft, sich berühren und irritieren zu lassen ein Kapitel in seinem empfehlenswerten Buch „Die granulare Gesellschaft“ verfasst. Darin schreibt er mit Blick auf beständigen Wandel:

„Es geht also nicht mehr – wie in der Moderne – darum, bekanntes Wissen miteinander zu verknüpfen und daraufhin Lösungen zu schmieden, sondern sich jenen Fragen zuzuwenden, für die es keine Lösungen gibt, außer man erfindet sie. Es geht darum, mit den Möglichkeiten zu spielen. (…) „Das Entscheidende“, sagt Lazlo Bock (Personalchef von Google), „ist die Fähigkeit, ständig dazuzulernen. Die Fähigkeit, disparate Informationspartikel zusammenzubringen.“
Darin besteht die granulare Begabung schlechthin. Sie erfordert nicht ein gesteigertes Wissen, sondern eine gesteigerte Irritierbarkeit, um sich von Dingen und Situationen anregen zu lassen und ergebnisoffen Prozesse zu starten. Die Irritation durch den Kommunikationsüberschuss auszuhalten und kreativ zu werden, ist die neue Kernkompetenz.“

Sascha Lobo sagte zum Abschluss der Würdigung von Frank Schirrmacher: „Sein Erbe liegt darin, sich die Freude, die Aufregung und die Lust an der Welt zu erhalten und sie in die Arbeit und in das Leben einfließen zu lassen.“