Die Debatte über die Debatte im Netz – sechs Thesen

Vielleicht muss man – wenn man über die Debattenkultur im Netz spricht – den schönen Spruch vom Baumhaus einfach nur etwas anders interpretieren. Vielleicht gilt vor allem:

„Wer noch nie im Baumhaus war, versteht einfach nicht, welche Vorschriften funktionieren und welche nicht.“

Die Forderung nach einem Ende der Anonymität, die in den vergangenen Wochen (unter anderem vom deutschen Innenminister) auf die Agenda gebracht wurde, zählt jedenfalls zu denjenigen Vorschriften, die im Baumhaus nicht funktionieren (wie Markus Beckedahl hier sehr gut erklärt hat). Sie krankt zudem allein an der Verbindung zu dem Gewaltverbrechen des norwegischen Terroristen, das den Anonymitäts-Gegnern als Anlass diente. Denn es war ja gerade dessen erklärtes Ziel, mit vollem Namen in der Öffentlichkeit zu stehen. Er ist ja sozusagen ein Gegner der Anonymität im Netz. Die Schreckenstaten aus Norwegen zum Anlass zu der Debatte um Anonymität im digitalen Raum zu nehmen, ist aber aus noch viel mehr Gründen, sinnlos.

tl;dr-Übersicht
1. Pseudonyme sind nicht anonym
2. Pseudonyme verbinden
3. Dialog setzt einen Willen zur Verständigung voraus
4. Wo es kein draußen gibt, wird niemals ein drinnen entstehen
5. Institutionen antworten nicht, Menschen schon
6. Nicht der Klarname, sondern die soziale Gruppe sorgt für Qualität
(Inspiration via Sascha Lobo )


Baumhaus fotografiert von Patrick M Loeff auf Flickr unter CC-Lizenz

Dennoch muss ich – mit leichtem Zeitverzug – den Ball hier nochmal aufnehmen, denn mich stört vor allem die Verbindung zum Thema Diskussionkultur im Netz, die ebenfalls stets mit der Frage nach Klarnamen in Zusammenhang gebracht wird.

Und spätestens hier sind wir tatsächlich im Baumhaus.

Die Debatte um den Wert der Debatte im Netz wird vor allem von Menschen geführt, die offenbar selber nicht an Debatten im Netz teilnehmen. Denn ein paar Dinge sehen in dem Baumhaus durchaus anders aus als wenn man nur von unten versucht Einblick zu nehmen.

Zur Klärung deshalb hier sechs Thesen zur Debattenkultur im Netz


1. Pseudonyme sind nicht anonym

Es ist mehr als ein sprachlicher Unterschied: Wer unter erfundenem Namen im Netz diskutiert, ist nicht anonym. Wer sich jemals in ein Baumhaus begeben und dort womöglich sogar mitdiskutiert hat, wird wissen, dass niemand den Personalausweis-Namen „Hans Müller“ benötigt, um von anderen wiedererkannt zu werden. Es ist einfach falsch zu behaupten, sternchen82 flüchte sich in die Anonymität oder stehe nicht zu dem, was sie sagt. Wer Gespräche mit ihr geführt hat, wird wissen, wer sternchen82 ist – ohne die Adresse und den vollen Namen zu kennen. Und sternchen82 steht sehr wohl zu dem, was sie sagt – sie betritt den Diskussionsraum ja genau deshalb jedes Mal wieder unter diesem Namen.

Menschen wählen (in Netz-Debatten) Pseudonyme, weil sie einen Bezug zum Personalausweis vermeiden möchten, aber nicht weil sie nicht erkannt werden wollen. Der überwiegende Teil der Diskutanten will ja gerade in der Debatte Bezüge herstellen und auffindbar sein, deshalb gibt es Pseudonyme. Zu glauben, nur durch klassische Vor- und Nachnamen entstehe eine Debatte, ist genauso falsch wie es falsch ist, die Minderheit der böswilligen Trolle zum Maßstab für Netzdebatten zu machen. Wer jemals selber eine Debatte geführt hat, würde beides nicht tun.

Gespräch fotografiert von harry f auf Flickr unter CC-Lizenz

2. Pseudonyme verbinden
Die häufig pauschal als böse (weil niveaulos) gescholtenen Foren zeichnet etwas aus, was den Debatten unter Zeitungsartikeln häufig fehlt: die Verbindung zwischen den Diskutanten. Wer sich z.B. in ein Fachforum begibt, teilt ein gemeinsames Interesse. Häufig erkennt man diese Gemeinsamkeiten auch an der Wahl der Pseudonyme und an den Zitaten, die einzelnen Forenbeiträge häufig abschließen. Darüber und über die Art, wie Diskutanten ein Profil-Bild wählen, erfährt man mehr über die jeweiligen Personen als über das Wissen, das sich „Hans Müller“ hinter diesem Beitrag verbirgt.
Seinen Namen wählt niemand selber, Pseudonyme hingegen schon. So liefern sie Gesprächsanlässe und sind vor allem Teil der Verbindung, die für Kommunikation notwendig ist.


Talk fotografiert von gin_able auf Flickr unter CC-Lizenz

3. Dialog setzt einen Willen zur Verständigung voraus
Warum reden wir überhaupt miteinander? Wer auf diese Frage keine Antwort hat, wird niemals zu einer geglückten Kommunikation gelangen. Denn Dialog entsteht nur, wenn man eine gemeinsame Sprache spicht, wenn man eine verbindende Haltung hat oder wenn zumindest eine gegenseitige Abneigung vorliegt, die dann ja auch ein einendes Element sein kann.

Kathrin Passig hat unlängst auf die hinderliche Vorstellung zahlreicher Journalistinnen und Journalisten hingewiesen,

es gebe hier den feinsinnigen, gebildeten Autor und dort das Kommentarproletariat, dem man notgedrungen ein Ventil für seine Meinung geben müsse, es sei jetzt halt so die Mode.

Und daraus den Schluss gezogen:

In diesem Glaubenssystem sind langweilige, dumme und bösartige Kommentare unvermeidlich.

Ich glaube, man kann dieses Glaubenssystem nur durchbrechen, wenn man die verbindende Haltung in den Mittelpunkt rückt. So wie Magazin-Macher sich einen Slogan für ihr Heft ausdenken, müssen im Netz publizierende Journalisten eine Antwort darauf finden, was die unter ihren Texten diskutierenden Menschen eint. Sie müssen sich die Frage stellen: „Warum kommentieren die hier?“ und daraus Schlüsse ziehen. Vor allem müssen sie ein positives Bild davon formen, wie sie die Debatte denn gerne hätten. Wie Print-Magazinmacher sich die Frage stellen, für wen sie ein Heft machen (und für wen nicht), müssen Netzpublizisten die Frage stellen, wessen Kommentare sie wünschen und wessen Kommentare eben nicht. Und am Ende sind sie dann in der Lage einen Slogan zu formulieren, der wie Werbung für die eigenen Kommentarbereiche funktioniert.

4. Wo es kein draußen gibt, wird niemals ein drinnen entstehen
Bisher ist die Klage über die mangelnde Qualität der Internet-Diskussionen oft darauf beschränkt, festzustellen, welche Kommentare man nicht möchte. Aber ohne das positive Beispiel wird sich keine Haltung formen lassen, die wie der Slogan eines Magazins, ein Drinnen und ein Draußen definiert. So wie das gemeinsame Interesse der Nutzer eines Fachforums dafür sorgt, dass zum Beispiel Angel-Freunde nicht plötzlich über die Vorteile eines 16-Zylinders diskutieren müssen, würde eine verbindene Community-Haltung auch aus dem Ruder laufende Netz-Debatten befrieden können. Denn an einem Ort, den die Diskutanten als ihren eigenen verstehen, setzen sie sich selber zur Wehr, wenn Störenfriede eindringen. Für die Ordnung an einem Ort, der ohnehin nicht gepflegt wird, fühlt man sich hingegen erstmal nicht zuständig.

Damit eine solche Gemeinschafts-Haltung entstehen kann, ist es unabdingbar notwendig, die gesichtslose Leserschaft als Community zu denken, die sich nicht einzig über Inhalte versammelt, sondern auch über Funktionen – wie zum Beispiel Leserkommentare.


5. Institutionen antworten nicht, Menschen schon

Aber auch die profesionellen Akteure müssen aus der Gesichtslosigkeit heraustreten. Journalistinnen und Journalisten müssen als Menschen aktiv in den Dialog eintreten, sonst wird dieser nicht gelingen. In dem Text Kommunikationskultur: Beherrsche dich, Nutzer! schildert ein Spiegel-Online-Autor wie er dann und wann die Leserpost Ernst nimmt, die ihn erreicht:

Manchmal mache ich mir den Spaß und beantworte so eine Schmiererei. Meistens beginnt meine Mail mit diesem Satz: „Sehr geehrter Herr XYZ, vielen Dank für Ihre konstruktive Kritik, aber…“ Nicht selten folgt darauf eine Antwort, die so klingt: „O sorry, wer ahnt denn, dass das jemand liest.“

Wenn die kommentierenden Leser nicht mal ahnen, dass sie gelesen werden, wird ihnen umgekehrt nur schwer zu vermitteln sein, warum sie sich in dem, was sie schreiben, an Anstandsregeln halten sollen. Geschweige denn, warum sie mithelfen könnten, den Anstand in einem Diskussionsforum zu wahren. Diese Ahnung jedoch wird sich nur vermitteln, wenn man als Journalist antwortet.

Dazu muss man vielleicht die These von Heribert Prantl wörtlich nehmen, der schrieb, das Blog eines Journalisten sei seine Zeitung, sein Magazin oder sein Sender:

In jedem professionellen Journalisten steckt ein Blogger. Der Blog des professionellen Journalisten heißt FAZ oder SZ, Schweriner Volkszeitung oder Passauer Neue Presse, Deutschlandfunk oder Südwestradio. Der sogenannte klassische Journalist hat dort seinen Platz, und er hat ihn in der Regel deswegen, weil er klassische Fähigkeiten hat, die ihn und sein Produkt besonders auszeichnen.

Wenn die in der Art bloggenden Journalisten dann auch mit Leserkommentaren und Bezügen umgingen, wie es Blogger gewöhnlich tun: es entstünde ein etwas anderes, womöglich debattenfreundlicheres Klima.

Vergangene Woche jedenfalls lieferten sich die beiden Feuilletonisten Steinfeld und Seidl in der SZ und in der FAS ein durchaus amüsantes Duell, das etwa so ging: Steinfeld schrieb in der SZ über Charlotte Roches neues Buch (er findet es nicht gut), Seidl tat gleiches in der FAS (er findet es besser), stichelte dabei aber gegen den Kollegen und dessen Ausführungen über Sex. Man kann das leider im Netz nicht nachverfolgen, weil Seidls Besprechung nicht online steht. Stünde sie im Netz und würde sie wie ein Blog behandelt, man hätte unter den Texten (neben anderen Kommentaren) die Bezüge (Backlinks) der beiden Journalisten lesen können. Womöglich hätten sie sogar in den Kommentarfeldern weiter gestichelt – und den Lesern, die vielleicht auch kommentieren wollen, so ein positives Beispiel fürs Kommentieren gegeben. Sie hätten deren Fragen beantworten können und einem wirklichen Dialog den Weg ebenen können.


Freundschaft fotografiert von TrevinC unter CC-Lizenz auf Flickr.

6. Nicht der Klarname, sondern die soziale Gruppe sorgt für Qualität
Für einen solchen Dialog sind Klarnamen übrigens in Wahrheit ganz und gar nicht wichtig. Das Beispiel mit der vermeintlich verbesserten Kommentarqualität auf Facebook darf nicht täuschen. Johannes Kuhn hat bereits auf den Fall Manuel Neuer hingewiesen, der auf Facebook mit Klarnamen-Kommentaren zu kämpfen hatte, die man bei Besinnung nicht mal völlig anonym schreiben würde. Dazu kam es, weil die dergestalt Schimpfenden in ihrer sozialen Gruppe (auf Facebook „Freunde“) womöglich sogar Unterstützung für ihren Neuer-Hass zu erwarten hatten. Und in dieser sozialen Gruppe liegt der Schlüssel für die Qualität von Kommentaren (ja auch für den Mangel). Denn nur in der Gruppe muss ich für Aussagen gerade stehen (egal, ob mit Pseudonym oder Personalausweis-Namen). Wenn Leser aber das Gefühl haben, ihre Kommentare würde nicht mal gelesen, funktioniert auch keine Gruppen-Kontrolle. Völlig egal, unter welchem Namen sie schreiben.

Mehr zum Thema:

>> Danah Boyd über “Real Names” Policies

>> Johannes Kuhns Kommentar zur Anonymitäts-Debatte

>> eine Übersicht der Kommentare, die Gott in seinem Schöpfungsblog bekäme

>> Der Online-Talk auf Dradio-Wissen.

>> Die Klarnamen-Debatte bei Breitband

>> Kathrin Passig über den Salon der schlechten Laune.

Um die Debattenkultur also zu heben, muss es gelingen, Gruppen zusammenzuführen. Leserschaften zu formen. Communitys zu bauen. Das ist keineswegs so neu, wie es klingen mag. Zeitungen funktionieren seit jeher nach diesem Prinzip. Hier ein Blatt für die eher konservativ Denkenden, dort eines für die links-liberalen. Anfangs funktionierten Zeitungen ja sogar als Parteiorgane. In einer Zeit, in der deren Bindungskraft zu schwinden scheint, ist es vielleicht eine gute Möglichkeit für Zeitungen, Leserschaften als Nutzerschaften zu binden. Ihnen eine gemeinsame Haltung oder Weltsicht zu vermitteln (jedenfalls eine Verbindung) und so eine für Netz-Debatten einende Sprache zu geben.

Zukunft fotografiert von Andrew Coulter Enright auf Flickr unter CC-Lizenz.

9 Kommentare

Die Diskussion ist eine akademische. Zum einen ist die Position der Bundesregierung uneinheitlich. Der Innenminister fordert Klarnamen. Die Familienministerin sagt, dass Kinder und Jugendliche auf gar keinen Fall mit Klarnamen im Internet agieren sollen. Was will der katholische Innenminister, der in einer frauenlosen Burschenschaft ist? Sollen etwa die katholischen Priester leichter ihre Opfer bekommen? Oder ist er intelektuell nicht in der Lage zu überblicken, was er fordert.
Zum anderen ist die Diskussion religiös: völlig ohne empirischen Nachweis werden Behauptungen als Tatsachen hingestellt. In der Medizin völlig undenkbar, dass man ohne jeden Beweis andere was zahlen lassen will. Aber in der Politik soll es gehen? Ich habe 10 Jahre in einem winzigen, öffentlich zugänglichen Board mit Klarnamen diskutiert. Dann ist einer durchgeknallt, hat angefangen bei Dritten über Diskutanden zu mobben. Erst ist er rausgeflogen, dann musste das Board geschlossen werden, weil der psychisch Gestörte keine Ruhe gab. Mit Klarnahmenzwang heilt man keine psychischen Deformationen. Wer so was erzählt ist ein Scharlatan und schadet den Bürgern. Und hier offenbar sollen auch Kinder und Jugendliche in Unsicherheit gebracht werden vom katholischen Innenminister.

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Das Baumhaus-Verhalten von selbsternannten Internet-Verstehern birgt ein Risiko: Nämlich die Gefahr, genauso anmaßend zu sein, wie die Politiker, die frei von Sachkunde unangebrachte Regelungen für das Netz fordern.

In aller Ausführlichkeit hier: http://seitenfux.de/wp/?p=91

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